Die Metapher ist bekannt: Die O-Menschen sehen das Wasserglas immer halb voll, die P-Menschen sehen es immer halb leer. Das genügt für den diskursiven Zeitvertreib, aber nicht für die Wirklichkeit. Optimismus und Pessimismus sind gleichermaßen einäugig.

Die optimistische Variante ist sympathisch, wenn sie das Ärmelaufkrempeln befördert. Aber sie tendiert zur Überheblichkeit, derzufolge wir diese verschwommene Zukunft nach unseren Wünschen gestalten können. Es gibt jedoch Irrtümer, Überraschungen, Widerstände. Man postuliert aktive Gestaltung, wo es sich oft nur um Dekoration oder Symbolik handelt. Und es gibt (nach Joseph Schumpeter) Situationen, in denen Optimismus nichts anderes ist als Pflichtvergessenheit.

Die pessimistische Variante gibt sich nicht nur der undifferenzierten Raunzerei anheim, die sich von Realitäten und Argumenten entfernt, sondern auch einem vorauseilenden Defätismus, demzufolge gegen die über uns hereinbrechenden Dinge ohnehin nichts zu machen ist. Das wäre Ignoranz, Faulheit und Unterwerfungsbereitschaft. Man braucht sich nicht zu bemühen, wenn am Ende ohnehin alles vergeblich gewesen sein wird. Vielleicht ist auch Pessimismus bloße Pflichtvergessenheit.

Deshalb ist die O-Variante ebenso unangemessen wie die P-Variante. Wie wäre es denn mit Realismus? Der realistische Blick sieht ein halb gefülltes Glas, wo es sich um ein halb gefülltes Glas handelt. Einerseits haben wir mehr als genug Krisen am Hals, andererseits sind wir immer noch in der Luxusecke der Welt angesiedelt.

Das 21. Jahrhundert hat mit einem optimistischen Irrtum begonnen. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur hat man an die Transformation geglaubt: an eine neue Phase von Kooperation und Vernunft, in einer gewissen Wiederbelebung des schlichten Aufklärungsdenkens und an eine Ausweitung der europäischen Erfolgsgeschichte auf die ganze Welt. Doch man befand sich in einer 30-jährigen Übergangsphase, erst jetzt arrangiert sich manches neu. Europa-Ost war zuerst ganz optimistisch, dann ganz pessimistisch – jedenfalls hatten die P-Menschen mit ihrem Misstrauen gegenüber Russland wohl die Nase besser im Wind.

In Sachen Klima und Nachhaltigkeit scheinen viele Optimisten unterwegs zu sein. Das Thema liegt seit genau einem halben Jahrhundert auf dem Tisch, denn 1972/73 wurde das Buch des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums veröffentlicht. Vom Ozon bis zum sauren Regen ist manches gelungen, aber die großen Projekte kommen erst. In Dubai ist soeben festgehalten worden, dass es irgendwann einen Ausstieg aus der Fossilität geben wird. Man darf sich über das Gemüt der O-Menschen freuen, die sich (wie schon bei den vorigen Konferenzen) über solche vagen Beschlüsse angetan zeigen. Realistischerweise wird es in der zweiten Jahrhunderthälfte eine andere Umwelt geben; ein paar Länder werden überschwemmt sein; Venedig wird sinken.

Bei der Migration, dem nächsten Problemcluster, tut man sich schwer, was man in Variante „O“ oder „P“ einordnen soll. Seit dem Ansturm 2015 sind acht Jahre verstrichen, mit bloß hinhaltender Einbremsung des Zuzugs von Migranten, die ja keine „Flüchtlinge“ sind, sondern besser leben wollen. Die O-Menschen haben insofern an Relevanz gewonnen, als bewusst geworden ist, dass wir eine gewisse Dosis an Immigration brauchen, weil sich die europäische Bevölkerung zur raschen Schrumpfung entschieden hat und Teufelskreise der regionalen „Entleerung“ entstehen. Für die P-Menschen bleibt der Sachverhalt unverändert, dass wir die paar Hundert Millionen Interessenten nicht ermutigen dürfen, wenn wir nicht selbst schnell in den Entwicklungsländerstatus geraten wollen. Und obwohl autoritäre Aufschwünge quer durch Europa zum beträchtlichen Teil „hausgemacht“ sind, hat doch die längerfristige Perspektive der Islamisierung Europas durch die jüngsten Bekundungen zum Israel-Krieg erhellende Facetten erhalten. Es wird sich in der zweiten Jahrhunderthälfte durch Migration ein anderes Europa gebildet haben, aber vielleicht können wir einiges vom jahrhundertelangen Erbe aufrechterhalten.

O- und P-Varianten finden sich auch dort, wo man gar nichts berechnen oder prognostizieren kann: bei Kommunikation und Digitalisierung. Da herrscht schlichtes Nichtwissen darüber, wie die Lage in zwei oder drei Jahrzehnten sein wird. Kommunikationsreichtum versus Kontrollgesellschaft. Informationsexplosion versus Bullshitepidemie. Großartige Medizintechnik versus Menschlichkeitsverlust. Arbeitsentlastung versus Banalitätsförderung. Es gibt gute Gründe für alle diese Einschätzungen. Maschinen, die sich selbst verbessern; und die wir nicht mehr kontrollieren können? Die Wirkungen der neuen Instrumentarien auf Geist und Bewusstsein der Menschen? Wir wissen, da kommt etwas: eine neue „künstliche Welt“. Etwas Großes. Doch vorderhand ist es eine Nebelwand.

Der neuerliche Eintritt in eine kriegerische Welt gehört natürlich zum Ressort der Pessimisten. Das letzte Dreivierteljahrhundert in Europa (mit Ausnahme der Balkan-Kriege) war jene historische Anomalie, die den Befund übertüncht hat, dass der Krieg, nicht der Frieden die Normalität in der Weltgeschichte darstellt. (Fachleute sagen: Wenn der Ukraine-Krieg beendet ist, wird Russland in sechs bis zehn Jahren wieder kriegsfähig sein. Diese Zeit bleibt uns, die eigene Verteidigung in die Hand zu nehmen.) Manche Optimisten schlagen in der jetzigen Situation (einmal mehr) Appeasement vor, weil sie eine plötzliche (und unbegründete) Appetitzügelung von Aggressoren durch Freundlichkeit unterstellen. Andere wollen weiterhin als Trittbrettfahrer mogeln, doch könnten sich ihre Trittbretter in nichts auflösen. Die internationale Szene ist insgesamt „kalt“ geworden. Auch ein Blick auf die im Niedergang befindlichen USA verleiht keinen optimistischen Schwung. Vor Jahrzehnten hat es in einem lockeren Spruch geheißen: Die Optimisten lernen Russisch, die Pessimisten Chinesisch. Wenn wir diesen Sager in die konkrete Geopolitik platzieren, spricht die Lage eher für die Pessimisten. Als europäischer „Papiertiger“ wird man sich jedenfalls nicht durchbluffen können.

Manchmal haben die O-Menschen, manchmal die P-Menschen die Nase vorn. Deshalb bleibt es beim Plädoyer für die Realisten, die auf der europäischen Landkarte ein halb gefülltes Wasserglas stehen haben. Sicher ist nur, dass es auf lange Sicht Europa (in einer wiedererkennbaren Gestalt) nur dann geben wird, wenn es nicht durch innere Schwäche, Nachlässigkeit, Überregulierung und Unverständnis zerbröselt ist.