Seit dem 6. April 1945 waren aus dem westlichen Wienerwald Sowjettruppen auf Wien vorgerückt, noch vor ihnen hatten Deserteure, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die sich das allgemeine Chaos zunutze machten, mit militärischen Operationen begonnen. Acht Tage, bis Mitte April, sollte dann die Schlacht um Wien dauern – die schwersten und grausamsten Kämpfe, die diese Stadt jemals getroffen haben. Nach ihrem Ende stand die Produktion zur Gänze still, das Rationierungssystem war zusammengebrochen, eine Hungersnot großen Ausmaßes schien unvermeidlich. Ein großer Teil der industriellen und gewerblichen Betriebe war zerstört, überall mangelte es an Rohstoffen, Energie und Wasser, Gas- und Stromerzeugung waren zur Gänze zum Erliegen gekommen. Es fehlte an Nahrungs- und Transportmitteln, vor allem auch an verfügbarem Wohnraum, hatte die Stadt doch ein Viertel ihrer Bausubstanz durch die Kampfhandlungen verloren.

Wien brannte an allen Ecken und Enden

Eine durch die Kriegshandlungen schwer zerstörte Infrastruktur, und in weiterer Folge militärische Besatzung, Zonentrennung, eine über der entgüterten Wirtschaft lauernde „Geldwolke“ (die jederzeit eine Hyperinflation auslösen konnte), Schwarzmarkt und Schiebertum setzten die äußeren Rahmenbedingungen der Wiederherstellung des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Gleichwohl ist nirgendwo und zu keinem Moment auch nur ein Anklang an jene „revolutionäre Gärung“ zu verspüren, wie sie für die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg so charakteristisch gewesen war.

Noch brannte Wien an allen Ecken und Enden, noch war ein Ausgangsverbot für die Abend- und Nachtstunden erlassen, noch hausten die Menschen ganzer Stadtteile in Kellern und Bunkern. Weder gab es Brot, Wasser, Gas, Licht, Strom oder ein nichtmilitärisches Fahrzeug auf den Straßen, als sich zum ehestmöglichen Zeitpunkt die politischen Massenverbände der künftigen demokratischen Republik und deren Eliten neu konstituierten. Mitten in jenem an Dante gemahnenden Inferno des unmittelbaren Nachkriegswien, am 14. April 1945, kamen Repräsentanten der „alten“ Sozialdemokratie vor 1934 (wie Adolf Schärf, Paul Speiser, Theodor Körner) und der illegalen Untergrundpartei der Revolutionären Sozialisten (unter anderen Felix Slavik, Anton Afritsch, Hilde Krones) zur Gründung der Sozialistischen Partei Österreichs im Roten Salon des eben befreiten Rathauses zusammen. Es waren Männer und Frauen, die unter hohem persönlichen Risiko die NS-Terrorherrschaft im Lande überdauert hatten, die – größtenteils isoliert und abgeschnitten von jeglichen Informationen über innen- und außenpolitische Vorgänge – in einem nur losen und privaten Zusammenhang zueinander gestanden waren und sich nunmehr seit Monaten auf ihre „historische Mission“ vorbereitet hatten.

Die Geburtsstunde der demokratischen Massenparteien

Ähnliches gilt für das konservative Lager. Am 17. April, unmittelbar nach dem Arbeiter- und Angestelltenbund sowie dem Bauernbund, wurde im Wiener Schottenhof die Österreichische Volkspartei von Leopold Kunschak, Hans Pertner, Lois Weinberger, Felix Hurdes, Leopold Figl und Julius Raab begründet. Es formierten sich hier, unter dem Eindruck des eben überstandenen traumatischen Geschehens, gegenüber der Zwischenkriegszeit gänzlich veränderte demokratische Massenparteien. Die ÖVP war um weitgehende Distanzierung von autoritären Experimenten der Vergangenheit bemüht, stark am Gedanken der christlichen Sozialreform orientiert und anerkannte die Notwendigkeit staatlicher Lenkungsmaßnahmen wie wirtschaftlicher Planung; sie wäre nach heutiger Terminologie wohl am ehesten der „linken Mitte“ zuzurechnen gewesen.

Für die SPÖ wiederum waren fundamentale Opposition wie auch Klassen- und Kulturkampf keinerlei Perspektive mehr. Beide bekannten sich zudem uneingeschränkt zu einer österreichischen Republik in jenen Grenzen, wie sie bis zum März 1938 existiert hatten.
Bemerkenswert jedenfalls ist die Tatsache, dass beide „historischen“ Großparteien bereits vor der Wiedererrichtung der Republik existierten und sich ihre Gründung demgemäß nicht im Rahmen eines bestehenden Rechtssystems oder in Gestalt einer in diesem Kontext vorgesehenen Rechtsform vollzog. Ihr Wiedererstehen bzw. ihre Neugründung hatte sich im Zusammenhang mit der Wiedergeburt der Republik und der Demokratie vollzogen, beides ist gleichsam ineinander übergegangen.

Die Rückkehr von Karl Renner

Dies jedenfalls ist die Stunde Karl Renners, der 1938 verkündet hatte, für den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland zu stimmen, dann die Nazizeit in „innerer Emigration“ in seinem Anwesen in Gloggnitz überstand, und im April 1945 auf die politische Bühne zurückkehrte. Der prominente Vertreter des rechten sozialdemokratischen Parteiflügels hatte in den entscheidenden Februartagen 1934 Verhandlungen mit christlichsozialen Mandatsträgern geführt und galt allgemein als Vertreter eines durch die nachfolgenden Ereignisse diskreditierten Verständigungskurses. Seine politische Isolierung wurde im Moment des Zusammenbruchs des Naziregimes durchbrochen und ermöglichte ihm eine auf breiter Zustimmung basierende Reaktivierung des Konzepts einer freiheitlich-demokratischen sozialen Republik. Er stelle sich, wie er am Tag der Gründung der ÖVP an den ehemaligen christlichsozialen Bürgermeister von Baden schrieb, mit aller Entschiedenheit „auf den Standpunkt der Verfassung von 1920“, bestreite die Legalität wie die Vernunft aller Novellen dazu, „insbesondere jener seit 1934“, und wolle, dass „die Zweite Republik in allem und jedem die Traditionen der Ersten Republik von 1918 bis 1920“ aufnehme, und zwar „ohne die untergrabenden Einflüsse der Faschisten aller Spielarten“.

Freie Wahlen im Jahr der Befreiung

Als letzter frei gewählter Parlamentspräsident nimmt Renner sofort Kontakt mit den Sowjets auf; andererseits hatte Stalin explizit nach ihm suchen lassen, in der Hoffnung, in dem beliebten, aber betagten Sozialdemokraten als Staatskanzler eine willige Marionette für seine weiteren Pläne zu finden.

Nicht nur in diesem Punkt sollten sich die Sowjets getäuscht haben. Unbeirrbar, unter unendlichen Mühen und mit der ganzen Routine seines langen politischen Lebens behauptet Renner die Autorität der von ihm geführten Konzentrationsregierung (SPÖ, ÖVP, KPÖ) gegenüber den Besatzungsmächten (Anerkennung durch die Westalliierten 20. Oktober 1945) als auch gegenüber den westlichen Bundesländern. Er setzt schließlich freie Wahlen noch im Jahr der Befreiung durch (25. November), die von der ÖVP unter dem ehemaligen KZ-Häftling und politischen Gefangenen im Wiener Landesgericht, Leopold Figl, mit deutlichem Vorsprung gewonnen werden. Renner hingegen wird am 2. Dezember 1945 mit einstimmigem Votum der Volksvertretung zum Präsidenten der wiedererstandenen Republik Österreich gewählt.

Parteien bauten den Staat wieder auf

Jedenfalls aber bedurfte es der Zustimmung oder zumindest Duldung der Besatzungsmächte, um die sich der provisorische Parteivorsitzende Adolf Schärf zunächst vergeblich bemühte. Erst auf Intervention des charismatischen Generals a. D. Theodor Körner – der am 17. April 45 zum Wiener Bürgermeister ernannt worden war und von dem es hieß, er verhandle mit den Besatzungsmächten in fünf Sprachen, in ihrer jeweiligen Landessprache – wurde die Sozialistische Partei durch den sowjetischen Stadtkommandanten Wiens offiziell registriert. In dem von den USA besetzten Teil Oberösterreichs allerdings war die Partei nach wie vor „weder gestattet noch geduldet“, der Aufbau ihrer organisatorischen Strukturen, in eigenwilliger Analogie zur „heroischen“ Gründerphase der 1890er-Jahre, demnach eigentlich illegal.

Der außergewöhnliche, in gewisser Weise absonderliche Zustand nach Kriegsende, wonach nicht ein Staat Spielregeln für die Gründung von Parteien festlegt, sondern Parteien (SPÖ, ÖVP und KPÖ) einen Staat wieder errichten, dauerte bis zur Schaffung eines Parteiengesetzes unter der Regierung Bruno Kreisky im Jahre 1975 an.