Herr Csáky, Sie entstammen einer alten Familie, die über Jahrhunderte hinweg die Geschicke Österreichs mitbestimmt hat. War Ihnen die Beschäftigung mit unserer Geschichte in die Wiege gelegt?
MORITZ CSÁKY: In gewissem Sinne: ja. Obwohl bei uns zu Hause nur wenig über die Vorfahren gesprochen wurde. Wir lebten eher in der Gegenwart. Das hatte damit zu tun, dass wir 1945 wie viele andere aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben wurden und in Österreich völlig neu anfangen mussten.
Als Historiker haben Sie intensiv zu Zentraleuropa geforscht. Gibt es eine österreichische Identität?
Natürlich gibt es sie. Es gibt sie, indem Menschen, die in diesem Land leben, sich auf ganz traditionelle Art und Weise zum österreichischen Staat bekennen. Wenn man Identität allerdings als Rückblick auf die Vergangenheit begreift, dann kommt rasch zum Vorschein, dass wir Österreicher eine äußerst vielschichtige Identität besitzen.
Wollen Sie damit sagen, den Österreicher an sich gibt es nicht?
Wir sind es in der Tradition und Diktion des 19. Jahrhunderts immer noch gewohnt, Identität ausschließlich als nationale Identität festzuschreiben. Aber gerade wenn man Zentraleuropa betrachtet, entpuppt sich diese holistische, also ganzheitliche Sicht als falsch. Tatsächlich ist die Region seit Jahrhunderten von einer Vielfalt von Ethnien, Sprachen, Religionen und Kulturen bestimmt, die auf die in ihr lebenden Menschen einwirken. Ich habe selber noch erlebt, wie selbstverständlich früher sogar einfache Leute vom Land, etwa aus der Gegend von Temeswar in Westrumänien, im Dorf nicht nur eine, sondern zwei oder drei Sprachen gesprochen haben. Diese Leute waren multipolar ausgerichtet, ja, die Vielfalt ist das eigentlich charakteristische Merkmal, aus dem sich, so widersprüchlich das auch klingen mag, die Übereinstimmung der ganzen Region herleitete.
Und das gilt auch heute noch?
Wir Zentraleuropäer und damit auch wir Österreicher sind von unserer Herkunft her nicht einer. Wir sind viele. „Du weißt, dass ich Slawe, Deutscher und Italiener bin“, schreibt der Triester Schriftsteller Scipio Slataper, der 1915 im Kampf gegen das Habsburgerreich fiel, in einem Brief an seine Frau. Aber lassen Sie mich das noch mit einem anderen, noch simpleren Bild verdeutlichen. Wenn Sie heute in Wien in ein Restaurant gehen und beim Ober ein typisches Menü bestellen, dann bekommen Sie eine Leberknödelsuppe, ein Gulasch und Powidltatschkerln. Das heißt, auf Ihrem Teller entfaltet sich kulinarisch die ganze Heterogenität Zentraleuropas. Und wir lassen uns diese unglaubliche Vielfalt mit großer Selbstverständlichkeit schmecken. Nur wenn wir nach unserer nationalen Identität gefragt werden, sind wir immer in der Versuchung, andere Komponenten wegzulassen.
Warum ist das so?
Weil wir Menschen uns nach Ruhe und Sicherheit sehnen. „Das deutsche Wien ist eine Grazer Erfindung“, spottete seinerzeit schon Anton Kuh. Die bekenntnishafte Einengung auf nur eine nationale Identität muss als Reaktion auf die verwirrend pluralisierte, heterogene und globalisierte Lebenswelt verstanden werden, in der wir heute zunehmend leben. Je größer diese Vielfalt ist, desto mehr verunsichert sie uns.
Das alles ist nicht neu, oder?
Die Situation in unseren Tagen lässt sich durchaus mit jener in Zentraleuropa um 1900 vergleichen. Diese Ausdifferenzierung und Segmentierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die allgemeine Orientierungslosigkeit, das Konflikthafte, hervorgerufen durch die starke Binnenmigration der Habsburgermonarchie in die Metropolen – das alles hat es schon gegeben. Von den 1,7 Millionen Einwohnern Wiens zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren eine halbe Million Zuzügler aus den böhmischen und mährischen Ländern. Diese Migranten wurden dringend als Arbeitskräfte für den Ausbau der Reichshauptstadt gebraucht. Denken wir nur an die Ringstraße! Doch die deutschnationale Politik hat die Zuwanderer sehr skeptisch gesehen. Sie hat versucht, sie auszugrenzen oder zwangsweise zu assimilieren, indem man sie nötigte, nur deutsch zu sprechen, und ihnen offizielle Schulen in ihrer Muttersprache verweigerte. Das ging so weit, dass, wer in Wien in eine tschechische Privatschule ging, nach Mähren oder Böhmen reisen musste, um Prüfungen abzulegen. Auch wenn die Zuzügler in die Städte aus der Region stammten, erinnert der feindselige Umgang mit ihnen doch auffällig an die politischen Debatten von heute.
Was kreiden Sie der Politik an?
Nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa sind in unseren Tagen wieder rechte und linke populistische Bewegungen im Aufwind, die ein nationales Narrativ hervorkramen, das mit Verschiedenartigkeit nicht viel anzufangen weiß. Mein ganz persönlicher Eindruck ist ja, dass sich nicht primär die Bevölkerung vor Migranten fürchtet. Sondern es ist die Politik, die diese Furcht vorgibt, medial verbreitet und dann behauptet, die Bürger ängstigen sich vor einer „Überfremdung“, um dieses hässliche, mit Jörg Haider aufgekommene Wort zu gebrauchen. Die ideologische Engführung betrifft aber nicht nur die Migranten, die heute von viel weiter her zu uns kommen, sondern auch autochthone Volksgruppen. In Graz und Klagenfurt etwa gibt es das slowenische Element, das noch immer negiert wird. Dabei ist ein Kärntner Slowene selbstverständlich Österreicher. Und er ist es, gerade weil er slowenisch spricht. Das gehört zu uns, und niemand darf einen Kärntner Slowenen zwingen, deutsch zu sprechen, weil er erst dann zum echten Österreicher würde.
Was dann zur Groteske wird, wenn Politiker, die das fordern, slowenische Namen tragen.
Eine besondere Ironie besteht darin, dass wir mehr von unseren Nachbarn übernommen haben, als wir gemeinhin wahrhaben wollen – ein Phänomen, das in der postkolonialen Theorie stark diskutiert wird. Die Unterwerfung eines Volkes verändert nicht nur dessen Kultur, sondern auch jene der Kolonisatoren. Joseph Roth hat das in „Das falsche Gewicht“, einem seiner letzten Romane, thematisiert. Darin zieht ein Eichmeister in eine Provinzstadt im Osten des Habsburgerreichs und versucht, der dort gängigen Verwendung falscher Maße und Gewichte ein Ende zu bereiten. Doch der Mann gerät immer mehr in den Sog der Peripherie und träumt, ehe er dem Alkohol verfallen gewaltsam stirbt, am Schluss dann selber davon, dass er mit falschen Gewichten handelt.
Eine komplexe Identität zu haben bedeutet auch, mit Gegensätzen leben zu müssen. Wie sollen wir Österreicher damit umgehen?
Am besten wäre es, Zentraleuropas Polyphonie als Bereicherung zu sehen. 70 Prozent der Vertreter der Wiener Moderne waren Migranten der ersten oder zweiten Generation. Die Kreativität eines Sigmund Freud, Karl Kraus oder Arthur Schnitzler gründete darauf, dass sie nicht eine Kultur repräsentierten, sondern viele Kulturen, allen voran die jüdische. Die Duldung von Widersprüchlichkeiten war auch ein Leitmotiv des politischen Kalküls in der k. u. k. Monarchie. So schreibt Robert Musil in „Der Mann ohne Eigenschaften“ über Kakanien: „Sein Regierungsgrundsatz war das Sowohl-als-auch oder noch lieber mit weisester Mäßigung das Weder-noch.“
Das Charakteristikum des Österreichers: „Hineindenken in andere bis zur Charakterlosigkeit ... Ironie bis zur Auflösung“, bemerkte wiederum Hugo von Hofmannsthal. Ist es das?
Ich bin mir bewusst, dass eine Einstellung, die kulturelle Gegensätze in Kauf nimmt und nicht einfach auszuradieren versucht, für alle politischen Akteure, für die die nationale Einheit und Zugehörigkeit das oberste Kalkül des staatspolitischen Handelns darstellt, immer unverständlich bleiben wird. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch! Ich halte nichts davon, Zentraleuropa zu überhöhen. Aber gerade Österreich könnte ein Beispiel dafür sein, wie eine komplexe Identität in einem postmodernen und globalisierten Zeitalter positiv gelebt werden kann. Wir haben die kulturelle Vielfalt in unseren Genen.