Tod und Moral, Sucht und Sinn: Wer diese Themen in ein Wort packen und damit Studierende ansprechen möchte, sagt „Vampir“. Es gibt kaum eine Figur der Kulturgeschichte, an der sich existenzielle Fragen von und für junge Menschen so popkulturell in immer neuer visueller Ästhetik abhandeln lassen wie den Vampir oder die Vampirin. Die bluttrinkenden Untoten haben kein Spiegelbild und eignen sich vielleicht gerade deshalb so gut als Spiegel für jugendliche Ängste und (Sehn-)Süchte.

Jede Generation hat ihre eigenen Vampire, beginnend 1816 mit der Erzählung des damals 21-jährigen John Polidori, der in seinem Roman „The Vampyre“ einen abgründig-faszinierenden Aristokraten auf Europareise das Blut junger Frauen trinken lässt. Seit damals ist der Vampir nicht mehr ein unbeholfener Wiedergänger in Dörfern des Balkans, von dem uns Beamte Maria Theresias im 18. Jahrhundert berichten, sondern eine Identifikationsfigur für die Abgründe radikaler Sinn- und Identitätsfragen der Moderne.

Der Vampir steht für ein Thema, das wir grundsätzlich meiden: den Tod und das Danach. Die traditionelle christliche Eschatologie, also die Lehre von den letzten Dingen, ist für viele heute ein Nischenangebot, erst recht für jüngere Zeitgenossen. Dabei ist der Vampir im 18. Jahrhundert wie heute zuerst einmal genau das: ein Antwortversuch auf die Frage, wie Existenz nach dem Tod vorstellbar ist. Der Untote, der nicht in ein Jenseits weiterzieht, sondern des Nachts aus dem Grab steigt und die Lebenden heimsucht, um sich von ihrer Lebenskraft zu ernähren, ist eine erschreckend einleuchtende Version von Eschatologie in einer säkularen Welt.

Viele Vampirerzählungen in Text, Film und TV-Serie drehen sich um die Ambivalenz der irdischen Unsterblichkeit: Während es vielen Opfern des Vampirs zunächst begehrenswert scheint, selbst untot und damit für immer jung und schön zu bleiben, wird ihnen in ihrer neuen Existenzform klar, dass sie für immer in einem gleichbleibenden Körper und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Normen und Erwartungen gefangen sind. „Forever 21“ (Für immer 21), wie ein vielfach gecoverter Song heißt, bedeutet auch: für immer in Ausbildung, für immer zu jung, um als Erwachsener wahrgenommen zu werden.

Sind die vielen Teenager-Vampire der letzten Jahrzehnte letztlich nicht jener Albtraum, der uns alle noch lange nach Ende der Schulzeit heimsucht: nie aus der Schule rauszukommen, immer und immer wieder über Jahrhunderte die gleiche Klasse besuchen zu müssen mit demselben langweiligen Stoff?

Das ewige Leben auf dieser Erde hat einen Preis, den andere bezahlen müssen. Diese Erkenntnis vermittelte der Vampir schon lange, bevor der ökologische Fußabdruck populär wurde. Die vampirische Existenz gründet sich im Blut von Menschen, die am Biss früher oder später sterben. Ist dieses Dasein auf Kosten anderer Lebewesen moralisch vertretbar?
Schon Karl Marx machte den Vampir zur Metapher für den „blutsaugerischen“ Kapitalisten, dem die Leben der ausgebeuteten Arbeiter zum Opfer fallen. In (filmischen) Vampirerzählungen des 21. Jahrhunderts wird anhand der (un-)moralischen Ernährung des Vampirs auffallend oft und deutlich eine Parallele zum Umgang von Menschen mit Tieren als Nahrung gezogen. Darf ein Vampir nur um des Genusses willen Blut direkt aus dem Hals seiner Opfer trinken und diese töten, wenn ihm Blutkonserven oder synthetisches Blut zur Verfügung stünden?

Auffallend ist, wie bereits in frühen Erzählungen der Blutkonsum des Vampirs als eine Sucht dargestellt wird, die ihn sogar über ihm liebe menschliche Freunde herfallen lässt, wie in Sheridan Le Fanus Geschichte über die jugendliche Vampirin Carmilla aus dem Jahr 1872. Ab den 1980er-Jahren sind die Parallelen zu den Gefahren und Symptomen juveniler Drogenkultur dann überdeutlich: die erste Faszination für eine nächtliche Subkultur, gefolgt von Augenringen, fahler Haut und ständigem quälenden Durst nach Blut – nicht umsonst gibt es Vampirfilme mit Titeln wie „The Hunger“ oder „The Addiction“ (Die Sucht).

Nosferatu, Urvater aller Film-Vampire: Max Schreck spielt in F. W. Murnaus Stummfilm von 1922 den Fürsten der Finsternis
Nosferatu, Urvater aller Film-Vampire: Max Schreck spielt in F. W. Murnaus Stummfilm von 1922 den Fürsten der Finsternis © imago images/Everett Collection

Das pubertäre Ringen um Beherrschung der eigenen destruktiven, animalischen Triebe und Begierden hat im Vampir seine ideale Verkörperung gefunden. Und noch etwas schwingt in vielen Erzählungen rund um Vampire und ihren Blutdurst mit: Der Vampir verkörpert buchstäblich unsterbliche Liebe, aber zugleich auch deren dunkle Seite in gewaltvoller Abhängigkeit. Während in den traditionellen Vampirfilmen junge Frauen scheinbar willenlos den Vampir in Gestalt einer Fledermaus ins Schlafzimmer ließen, muss der nächtliche Verehrer heute zumindest die Zustimmung des Gegenübers einholen, bevor er zubeißt.

Der Vampir personifiziert jene poetische Todessehnsucht, die nur Dichter und Songwriter unter 27 wirklich schön in Worte fassen können, und ist zugleich ein gefahrloses „Was wäre, wenn ich jetzt in unerfüllter (Sehn-)Sucht sterben und für immer damit weiterexistieren müsste?“. Und sind nicht fast alle während ihrer Schulzeit irgendwann Kreaturen der Nacht, die meinen, beim ersten Sonnenstrahl, der ins Zimmer fällt, wenn die Eltern den Vorhang wegziehen, zu Staub zu zerfallen?

Theresia Heimerl,  Religionswissenschaft an der Universität Graz
Theresia Heimerl, Religionswissenschaft an der Universität Graz © LELJAK/UNI GRAZ