"Ertragt einander und vergebt einander." Ein hehrer Appell aus dem Kolosserbrief, den Sie Ihrem neuen Buch „Von der Pflicht“ vorangestellt haben. Glauben Sie, dass die Erfahrungen der Ausnahmejahre 2020 und 2021 bewirken, dass wir uns künftig anders verhalten, hellhöriger werden?
RICHARD DAVID PRECHT: Das Problem ist immer, wenn man von „Wir“ als Gesellschaft spricht. Es gibt sicher Menschen, die überhaupt nichts gelernt haben und einige, die etwas verändert haben. Es ist wie immer in Krisen. Es verstärkt sich der Charakter, die Solidarischen werden noch solidarischer, die Unsolidarischen noch unsolidarischer. Was sich aber wirklich verändert hat, ist, dass wir uns unserer biologischen Verletzbarkeit bewusst geworden sind. Das wird in Zukunft der große Unterschied sein. Wir leben in technischen Welten. Unsere Kinder denken ja irgendwie, sie sind eher mit dem Smartphone verwandt als mit Lebewesen. Jetzt haben wir aber alle bemerkt, wie ein kleines biologisches Lebewesen unser Leben durcheinanderbringen kann. Corona hat vielen durch die sinnlich spürbare Erfahrung stärker die Augen geöffnet für einen anderen Ausnahmezustand, jenen bei einer Erwärmung um ein oder zwei Grad.

Aber Sie zweifeln am Lerneffekt. Sie stellen doch die Frage, wenn schon ein Stück Stoff im Gesicht manche empörte, wie erst werden diese reagieren bei massiven Einschnitten zur Erreichung der Klimaneutralität.
Der Unterschied ist, dass man keine Grundrechte einschränken muss, um die Klimakatastrophe zu vermeiden. Man muss aber auf lieb gewordene Gewohnheiten verzichten. Wir werden nicht mehr so viel fliegen können wie bisher, wir werden nicht mehr unvernünftig große Autos - wie SUV, diesen materialisierten Trotz gegenüber dem Klimawandel - fahren können, die ohnehin eher für die Straßen von Kabul gebaut sind als für Wien, Autos, die sich aber immer mehr Menschen leisten, weil sie glauben, dass sie sonst statusmäßig nicht zur Gesellschaft dazugehören. Nichts davon schränkt aber unsere Grundrechte ein.

Das ist also der positive Lerneffekt aus den Lockdowns?
Wenn man sich die Zustimmungswerte für die Grünen in Deutschland ansieht, kann man sagen, die Grünen sind die Partei, die unter Anführungszeichen am stärksten von Corona profitiert haben. Die Menschen haben kapiert, wie sehr wir uns um die Natur sorgen müssen.

Welche Lehren werden wir noch ziehen?
Der Staat wird sich auf vielen Ebenen Gedanken machen, um sich für Krisen zu wappnen. Wir haben gesehen, wie sehr die Automobilindustrie aber auch andere von einer Zulieferindustrie abhängig sind. Wir werden die Globalisierung nicht aufhalten, aber wir werden zunehmend überlegen, dass wir uns nicht mehr in zu große Abhängigkeiten begeben. Es wird eine gewisse Re-Regionalisierung geben oder auch Nationalisierung.

Optimisten hoffen, dass sich durch die Erfahrung der Lockdowns das Konsumverhalten ändern wird, regionale Lebensmittel an Bedeutung gewinnen.
Es gibt gewisse Trends, aber diese werden sich nur durchsetzen, wenn der Staat eine entsprechende Förderungspolitik betreibt. Es kann nicht sein, dass ein Apfel aus Neuseeland weniger kostet als einer aus der Region. Wenn die Umweltkosten des Transports miteinberechnet werden, müsste er unbezahlbar teuer sein und dann würde sich der Trend zu regionalen Lebensmitteln verstärken. Die Wende hin zu Ökologie und Nachhaltigkeit können wir nicht dem einzelnen Verbraucher auf die Schultern bürden.

Warum nicht? Es könnte jeder Konsument Druck ausüben.
Das ist die große Illusion. Der Verbraucher soll entscheiden, dass er Tiere aus artgerechter Haltung isst? Das trifft auf etwa zehn Prozent zu. Und das, obwohl wir über die ganzen Sauereien aus der Massentierhaltung Bescheid wissen. Wie viele kaufen Produkte aus Fairtrade-Handel? Keine zehn Prozent. Bei diesem Tempo sind wir am Ende des 21. Jahrhunderts nicht dort, wo wir heute eigentlich schon sein müssten. Der Konsument hat auch nicht die Zeit dafür, sich in jeder Lage darüber Gedanken zu machen, wie ökologisch sinnvoll jeder Kauf ist. Ich würde gerne plastikfrei leben, aber wie? Ich würde mir wünschen, dass die Regierung nicht recyclingfähiges Plastik verbietet.

Sie halten also nichts von der Kritik, dass wir weniger Betroffenheitskundgebungen, weniger „Fridays for future“ bräuchten, sondern mehr Menschen, die selbst handeln und weniger auf einen politischen Godot warten?
Ich muss nicht auf ihn warten, ich kann ihn wählen.

Glauben Sie, dass es ihn gibt?
Ich glaube schon, dass die Basis in den Parteien den entsprechenden Druck machen kann. Ich habe ja für Jugendliche und Pensionisten ein soziales Jahr vorgeschlagen und kann mir vorstellen, dass das kommt.

Für viele werden Sie mit Ihrer Forderung, auch über Bürgerpflichten nachzudenken, zum Spaßverderber.
Warum? Ich hatte im Zivildienst eine Menge Spaß.

Pflicht und Mäßigung klingen aber eher fremd in den Ohren einer Anspruchsgesellschaft.
Das liegt daran, dass wir in einer Hyperkonsumgesellschaft leben, die uns pausenlos Produkte verkaufen will, damit wir möglichst viel Spaß haben. Frühere Gesellschaften waren anders konditioniert. In jener meiner Großeltern war Maßhalten und die Erfüllung einer Pflicht das Selbstverständlichste auf der Welt. Das gänzlich abzuschaffen, ist wohl kein Gewinn, sondern ein Verlust. Dass der Bürger den Staat als Dienstleister und sich als Konsument sieht, dem keine Pflichten auferlegt werden dürfen, ist ja ein völlig infantiles Verhältnis.

Über „Menschinnen“ oder die Schuld des „alten, weißen Mannes“ wird jedenfalls an Universitäten hitziger debattiert als über Pflichten.
Das stimmt. Ich bin gegen das Gendern, würde es aber jedem selbst überlassen und nicht mit Befehl Gender-Sternchen einführen. Keine Frau fühlt sich ernsthaft diskriminiert, wenn kein „Innen“ steht. Da geht es um eine kleine Schicht gut ausgebildeter Frauen.

Als Anti-Genderer müssten Sie an einer deutschen Uni mit moralischer Diskreditierung und Ausgrenzung rechnen.
Da ist was dran. Es wird mit dem moralischen Holzhammer argumentiert und damit der Sache keinen Gefallen getan. Ich beschäftige mich mit dem Tierhaltungsthema, aber würde nie sagen, dass Massentierhalter Mörder sind. Ich würde damit Leute, die ich zum Umdenken bewegen möchte, nur zu Feinden machen.

Den Linken werfen Sie aber vor, aufgrund der Forderung nach Correctness ein moralisches Erziehungsprogramm zu verfolgen, seit sie den Glauben an den Sozialismus auf Erden verloren haben.
Das ist tatsächlich so. Man möchte die Deutungshoheit über das Innerste im Menschen haben, seine Sprache, sein Geschlecht, seine Sexualität, was er fühlen darf, was nicht. Die Tatsache, ein bestimmtes Gefühl zu haben, ist heute bereits eine Lizenz dafür, mich daneben benehmen zu dürfen. Auch hier haben wir das Maß verloren. So etwas ist bislang in der Geschichte der Menschheit immer schiefgegangen.

Das Glaubenskriegerische wird sich noch verstärken?
Das hängt mit den Umbruchzeiten zusammen. Wir erleben im Augenblick zwei Revolutionen gleichzeitig: die digitale Revolution und den Umbau der marktwirtschaftlichen Systeme in echt nachhaltige Systeme. Beide sind gigantische Revolutionen. Sie werden unsere Art zu leben, zu denken nachhaltig verändern. Es wird eine neue Gesellschaft entstehen. In einer solchen Phase kommen immer Leute mit ihren privaten Interessen und ideologisieren sie. Wir hatten das auch in der ersten, noch stärker in der zweiten industriellen Revolution. Jeder, der irgendetwas im Hinterkopf hat, schart Anhänger um sich.

Wie jene, die im „alten, weißen Mann“ das Übel der Welt sehen oder verfolgen diese einen Rassismus mit anderem Vorzeichen?
Da wird jemand aufgrund seines Geschlechts, Alters, seiner Hautfarbe abgestempelt. Der Inbegriff von Rassismus. Dann sagen mir Leute: Nein, das ist kein Rassismus, weil es trifft die, die immer auf der Siegerstraße standen.

Richard David Precht geboren am 8.12.1964 in Solingen. Er zählt zu den bedeutendsten Philosophen und Autoren im deutschsprachigen Raum. Bestseller: „Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?“, „Von der Pflicht“