Der am Samstag in Gerasdorf erschossene gebürtige Tschetschene Martin B. dürfte Angst vor einem Attentat gehabt haben. Der 43-Jährige habe ihn Mitte Juni um Hilfe bei der Beschaffung einer kugelsicheren Weste ersucht, berichtete der ukrainische Ex-Politiker Ihor Mossijtschuk am Sonntag in einem Telefonat mit der APA. Mossijtschuk selbst hat 2017 einen Terroranschlag in Kiew überlebt. Von dem soll Martin B. laut ukrainischen Ermittlungen vorweg gewusst haben.

"B. hat mich gebeten, beim Kauf einer kugelsicheren Weste sowie eines Hemds aus Kevlar (widerstandsfähiger Stoff, Anm.) zu helfen. Er gab mir auch seine Maße", schilderte der Ex-Abgeordnete. Er habe in Folge Bekannte in Israel kontaktiert, wo derartige Spezialkleidung produziert wird, sagte Mossijtschuk.

Auf seine Bitte, eine Lieferadresse anzugeben, habe ihm B. am 23. Juni schließlich eine Anschrift in Wien-Donaustadt übermittelt. Die Adresse liegt der APA vor: Es handelt sich um ein Mehrparteienhaus im Besitz der Stadt Wien, in dem auch eine Polizeiinspektion untergebracht ist. Ob die Weste auch tatsächlich angekommen sei, wisse er nicht, betonte Mossijtschuk. Zuletzt habe ihm B. jedenfalls am 28. Juni eine Nachricht geschickt, die sich lediglich auf ein Hobby bezogen habe.

Zwei Verdächtige in U-Haft

Nach den tödlichen Schüssen auf den 43-jährigen Tschetschenen am Samstagabend sind zwei Verdächtige in die Justizanstalt Korneuburg eingeliefert worden. Wie Wolfgang Schuster-Kramer vom Landesgericht Korneuburg auf APA-Anfrage mitteilte, befinden sich der mutmaßliche Schütze - ein 47 Jahre alter Tschetschene - und ein weiterer Tschetschene bereits in U-Haft. Der zweite Verdächtige hatte sich zum Tatzeitpunkt am Tatort befunden und zunächst als Zeuge gegolten. Der Mann verwickelte sich in seiner Zeugeneinvernahme dann aber in Widersprüche, sodass am Ende für ihn wegen einer möglichen Verwicklung in die Bluttat die Handschellen klickten. Nähere Angaben zu seiner Identität wurden nicht bekannt gegeben, am Sonntagnachmittag wurde auf Ersuchen der mit den Ermittlungen betrauten Staatsanwaltschaft Korneuburg eine Informationssperre verhängt.

Laut Walter Schwarzenecker von der Landespolizeidirektion Niederösterreich war der russische Asylwerber Mamichan U., der sich zuletzt in Martin B. umbenannt hatte, am Samstag kurz nach 19.00 Uhr im Bereich der Einfahrt zu einer Baufirma an der Brünner Straße (B7) erschossen worden. Polizeiangaben zufolge wurde gegen 21:35 Uhr nach einer Großfahndung ein 47-jähriger Landsmann in Linz unter Beteiligung des EKO-Cobra als dringend Tatverdächtiger festgenommen. Er leistete keinen Widerstand.

Erschossener war Konventionsflüchtling

Das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) nahm die Ermittlungen auf. Die Staatsanwaltschaft Korneuburg ordnete die Obduktion des Opfers an. Der Erschossene war seit 2007 als anerkannter Konventionsflüchtling in Österreich gemeldet. Zuletzt hatte Martin B. in einem Videoblog die Führung der russischen Teilrepublik Tschetschenien provoziert und insbesondere den Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow beschimpft.

Medienberichte, die einen Auftragsmord mit politischem Hintergrund vermuteten, wurden bisher nicht offiziell bestätigt. Allerdings weist der Fall deutliche Parallelen zu dem im Jänner 2009 in Wien-Floridsdorf erschossenen tschetschenischen Asylwerber Umar Israilov auf. Dieser hatte gegen Kadyrow vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Verfahren im Zusammenhang mit Folter-Vorwürfen betrieben. Die Staatsanwaltschaft Wien kam im Zug ihrer Ermittlungen zum Schluss, dass Israilov zumindest mit Billigung Kadyrows verschleppt werden sollte. Als er sich dieser widersetzte, wurde er erschossen.

Konkrete Bedrohungen

Gegen Martin B. dürfte zuletzt ein konkretes Bedrohungsszenario bestanden haben. Laut Informationen der APA wurde ihm von den Sicherheitsbehörden Personenschutz angeboten, den er aber abgelehnt haben soll. Ein führender tschetschenischer Exilpolitiker in Österreich kündigte für Dienstagnachmittag eine Demonstration vor der russischen Botschaft in Wien an. "Wir versuchen, auf diesen Mord zu reagieren", erklärte Khuseyn Iskhanov der APA. Mit der Demonstration wende man sich auch an den österreichischen Staat. "Von den hiesigen Behörden fordern wir, dieses Verbrechen aufzuklären", ergänzte Iskhanov. Von Russland fordere man, Politmorde an tschetschenischen Flüchtlingen in Europa zu beenden, betonte der Exilpolitiker.

Sorge um tschetschenische Dissidenten

Der Mordanschlag auf den tschetschenisch stämmigen Mamichan U. alias Martin B., der in Gerasdorf (NÖ) erschossen worden ist, lässt die Sorge um die Sicherheit von im Exil lebenden tschetschenischen Dissidenten weiter wachsen.

Im vergangenen Februar hatte der tschetschenische Blogger Tumso Abdurachmanow in seiner Wohnung in Schweden mit Mühe den Angriff eines Mannes mit einem Hammer abwehren können. Einen Monat zuvor war die Leiche des tschetschenischen Dissidenten Imran Alijew mit 135 Stichwunden in einem Hotelzimmer der nordfranzösischen Stadt Lille gefunden worden.

In Westeuropa leben viele Emigranten aus der mehrheitlich muslimischen und zu Russland gehörenden Kaukasusrepublik. In den 1990er-Jahren flüchteten sie vor zwei Kriegen mit Russland, in den vergangenen Jahren verließen viele aber vor allem wegen Machthaber Ramsan Kadyrow ihre Heimat.

Der 43-Jährige ist ein Verbündeter des Kreml. Laut Menschenrechtsaktivisten hält sich Kadyrow aber vor allem mit massiven Einschüchterungen von Gegnern, außergerichtlichen Tötungen und Entführungen an der Macht.

Im Zusammenhang mit dem Mordfall bei Wien teilte das ukrainische Innenministerium am Sonntag mit, Martin B. habe 2017 in der Ukraine in einem Fall ausgesagt, bei dem es um einen Schusswaffenangriff auf einen Mann ging, der die Ermordung von Kremlchef Wladimir Putin geplant hatte. Der Mann wurde bei dem Angriff in der Nähe von Kiew verletzt, seine Frau getötet.