In endlosen Videocalls, die zu unserem neuen Alltag geworden scheinen, betrauern meine Freunde in beängstigender Gleichförmigkeit den Ausfall des heurigen Osterfestes. Sie betrauern den Mangel an gesegnetem Selchfleisch, Osternestsuche aber vor allem: das Zusammensein mit der Familie. Bei diesen Gesprächen werde ich meist still und fühle mich auf merkwürdige Art dazu gedrängt ihnen beizupflichten. Die Wahrheit ist: Ich bin erleichtert, dass Ostern dieses Jahr ausfällt. Das will ich aber nicht sagen. “Aber bei uns war Ostern und Weihnachten immer toll”, höre ich sie sagen. Schön für euch.

Auch noch heute, bald 10 Jahre lebe ich nun schon nicht mehr bei meinen Eltern, haben ausgedehnte Feiertage für mich noch immer nicht den Beigeschmack der Angst verloren. Diese waren in meiner Kindheit nämlich die Zeit, in der mein Vater nicht wie üblich seine ganzen Tage bei der Arbeit verbrachte, sondern bei uns zu Hause war. Es waren Tage und Wochen der Gewalt.

Die Arbeit schien wie ein enges Korsett zu sein, dass ihn zusammen hielt. Ohne es zerbrach er, zerfiel in seine Einzelteile.

Heute weiß ich, dass mein Vater psychisch krank ist. Damals wusste ich es nicht, damals hatte ich nur schon wochenlang vorm Weihnachtsfest Bauchschmerzen, verursacht von der Angst vor einer Zeit, die bei uns von Depressionen und Aggressionen geprägt war. Ich erinnere mich an ihn, wie er seinen gesamten Urlaub über kaum seinen Bademantel auszog, seine Lippe gespickt mit dem charakteristischen Fleck aus Zahnpasta, der Abhilfe schaffen soll beim alljährlich pünktlich wiederkehrenden Herpesausbruch. Ich erinnere mich an ihn, wie er sich in den Schlaf weinte und in Panik hustend nach Luft rang

Ich hatte in meiner Kindheit viele Albträume. Sie fühlten sich so real an, dass ich manchmal verängstigt aufwachte und das Licht anschaltete, um die Monster zu vertreiben. Ich war ein schwieriges und ängstliches Kind, würde mein Vater wohl sagen. Manches mal wachte nicht meine Mutter, sondern mein Vater durch mein Schreien auf. Selbst von Schlafmangel gerädert, schrie er mich an und ich erinnere mich noch genau, wie er dann die Tür von außen zuhielt, die Hand fest unter die Türklinke geklemmt und ich weinend und immer noch verängstigt an ihr riss. Es half nichts. Er hatte kein Erbarmen und kein Verständnis für meine kindliche Angst. 

Das Schlimmste war nach den Feiertagen meist vorbei, eine angespannte Routine stellte sich ein. Mein Vater ging wieder ins Büro. Für viele Kinder, die in diesen Wochen und Monaten in schwierigen Familien aufwachsen, ist das nicht der Fall.

Sie sind mit ihren Eltern auf unbestimmte Zeit eingesperrt und ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie das für sie ist. 

Die Probleme meines Vaters erreichten ihren Höhepunkt, als ich etwa zwölf war und resultieren in gewalttätigen Angriffen, an die er sich später nicht mehr erinnern konnte. Meine Mutter hatte mich seiner Obhut überlassen, nicht ahnend oder nicht ahnend wollend, wie sehr die Gewalt außer Kontrolle geraten war. In dieser Zeit wurde es zu seinem Markenzeichen mich in seiner Hilflosigkeit im kleinen, weiß gefliesten, fensterlosen Bad einzusperren. Jahre später hing er dort eine Tageslichtlampe auf. 

Viele Male überlegte ich, Hilfe zu holen, doch nie wusste ich so recht, wer mir geholfen hätte. Als ich 12 Jahre alt war, verpasste ich fast ein ganzes Schuljahr. Die Lehrer hatten keine Handhabe und in der Rückschau engagierten sie sich wenig. Oft frage ich mich, ob nicht bei meinen Lehrern alle Alarmglocken hätten schrillen sollen, doch nichts passierte. Wie Lehrer es in diesen Tagen über zwischengeschaltete Endgeräte schaffen sollen, zu erkennen, dass ein Kind Gewalt erleidet, ist mir ein Rätsel.

Schlimmer als die Hilflosigkeit, die ich angesichts der körperlichen Überlegenheit dieses über 1.90 großen Mannes empfand, war, dass mir damals niemand glaubte.

Mein Vater passte nicht ins Bild eines gewalttätigen Mannes, war er doch immer gut angezogen, gut ausgebildet, immer ruhig nach Außen. Auch meine Mutter ignorierte damals meine Bitten, wieder zu ihr ziehen zu dürfen. Erst als sie zufällig aus dem Fenster ihrer 2-Zimmer-Wohnung heraus beobachtete, wie er mich in einem Anfall von Rage aus seinem anfahrenden Auto stieß, griff sie ein. 

Alles, was heute davon bleibt, ist die Sorge um Kinder, die gerade ähnliches erleiden. Nicht immer sieht eine zerrüttete Familie von Außen aus wie eine. Was es in diesen Tagen braucht, ist große Wachsamkeit und ein Auge auf die Kleinsten unserer Gesellschaft. Denn was ich mit Sicherheit sagen kann: Noch heute überfällt mich in manchen Situationen die Angst eingesperrt zu sein, oder fahre zusammen, wenn jemand plötzlich die Hand erhebt, obwohl all das vor vielen Jahren endete. Die Spätfolgen dieser Krise werden zeigen, wie erfolgreich wir waren.

Bitte bedenken Sie immer: Auch einer ihrer Liebsten könnte der Mann sein, der hinter den Kulissen die Beherrschung verliert. Sehen Sie hin, auch wenn es wehtut.