Der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak warnt im "profil"-Interview am Donnerstag, im Umgang mit der Coronavirus-Krise bei den Einschränkungen stets auf die Verhältnismäßigkeit zu achten. Die Epidemie dürfe nicht dazu genutzt werden, um auf Dauer die demokratischen Institutionen zu untergraben. "Der Ausnahmezustand darf nicht zur Regel werden", sagt Nowak.

In Ungarn könnten etwa dem Regierungschef große Ermächtigungen gegeben werden, die schwer zurückgenommen werden könnten, verweist Nowak auf die Pläne unseres Nachbarlandes. Vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie will sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban umfassende Vollmachten geben lassen.

Ein neuer Gesetzesentwurf würde es ihm ermöglichen, auf unbegrenzte Zeit und ohne parlamentarische Kontrolle mit Verordnungen zu regieren. Wahlen und Referenden dürften während der Notlage nicht stattfinden. Das Gesetz wird voraussichtlich Anfang nächster Woche beschlossen. Mehrere EU-Politiker haben bereits Alarm geschlagen.

Zur Verhältnismäßigkeit warnt der Wiener Menschenrechtsprofessor auch beim Umgang mit Falschnachrichten, etwa in sozialen Netzwerken. "Ich glaube nicht, dass man Fake News unter Strafe stellen sollte", sagt Nowak im "profil"-Podcast. Eine Ausnahme seien etwa Hetzkampagnen, bei denen zum Hass gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgerufen werde. Ansonsten müsse die Meinungsfreiheit aber umfassen, dass es auch einmal Falschinformationen oder Satire geben könne. Nowak spricht sich im Kampf gegen Verschwörungstheorien für Aufklärungsarbeit aus. Es sei wesentlich, dass Medien eine entsprechende Verantwortung wahrnehmen und nicht unterdrückt würden. Qualitätsjournalismus dürfe nicht beschränkt werden.

Meinungsfreiheit wichtig

"Gerade in Zeiten der Krise ist die Meinungsfreiheit unglaublich wichtig", sagt Nowak. Aufpassen müsse man, wenn - wie derzeit in Ungarn diskutiert - sogenannte Falschnachrichten unter Strafe gestellt würden, "wobei nicht klar ist, wer genau entscheidet, welche Nachricht falsch und richtig ist".

Auch beim Punkt Privatheit sieht der Experte in manchen Ländern Maßnahmen, die sehr stark das Bewegungsprofil von Menschen durch Gesichtserkennung (face recognition) nachzeichnen und dadurch die individuelle Privatheit sehr einschränkten in Richtung Überwachungsstaat.

Wenn digitalisierte Gesichtserkennung Bewegungsprofile nachzeichne, aber nicht individualisiere, sei das sinnvoll für die Eindämmung des Virus, so Nowak gegenüber "profil". Aber wenn wie in Israel, Südkorea oder China angedacht sei, diese Daten zu individualisieren, dann ginge das einen großen Schritt weiter in die Einschränkung der Privatheit, weil das zu Sanktionen führen könne, was eine massive Einschränkung der Rechte sei. Ob das gerechtfertigt sei, sei eine Frage der Risikoabschätzung, des Verhältnismäßigkeitsprinzips.

Russland will etwa Personen anhand von Geodaten von Mobiltelefonen überwachen, die mit Coronavirus-Patienten in Kontakt gekommen sind. Die Informationen würden auch an spezielle regionale Behördeneinrichtungen weitergeleitet, die zur Bekämpfung der Pandemie aufgebaut wurden. Russlands Präsidialamt bezeichnete die Maßnahme als legal.

In Diktaturen leichter

China habe es zwar laut Nowak geschafft, durch rigorose Maßnahmen die Virus-Ausbreitung einigermaßen schnell in den Griff zu bekommen. Das sei aber in Diktaturen leichter, da man sich nicht um Menschenrechte kümmern müsse.

Auch wäre es dem Experten zufolge sinnvoll, rechtzeitig Maßnahmen in griechischen Lagern zu setzen, dass die Gefahr gebannt und die Menschen aufs Festland gebracht würden.

Rund 150 zivilgesellschaftliche und kirchliche Organisationen aus Österreich und aus ganz Europa hatten am Montag einen dringenden Appell an Spitzenpolitiker der EU und den griechischen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis gerichtet und angesichts der Coronavirus-Pandemie die Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager gefordert. Auch das Europaparlament forderte die Räumung von Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln. Für Österreich hatte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) eine Aufnahme von Flüchtlingen aus den Lagern zuletzt abgelehnt.

Generell erkennt Nowak derzeit "massive Einschränkungen verschiedenster Menschenrechte", wie persönliche Freiheit, Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. In den meisten europäischen Staaten seien die Maßnahmen zum Schutz der öffentliche Gesundheit verhältnismäßig, zeitlich begrenzt und gut vorbereitet. So wie die Umsetzung in Österreich geschehe, sei das eine normale Vorgangsweise in einem demokratischen Rechtsstaat.

Entscheidungsträger sollten jedoch in Bezug auf die Menschenrechte aufpassen, wo etwas über das Ziel hinausschießen könnte: wenn etwa ein älteres Ehepaar auf einer Parkbank sitzt, ist zu fragen, ob man diese wegschicken müsse. "Ist das noch eine verhältnismäßige Maßnahme, ist das wirklich notwendig?", fragt Nowak.

Auch wenn Quarantäne-Maßnahmen dazu führten, dass häusliche Gewalt zunehme, müsse man aus menschenrechtlicher Sicht gegensteuern. Aufzupassen sei auch bei gewissen Risikogruppen, wie im Strafvollzug, wo Gefängnisse oft überbelegt seien und die Gefahr der Virus-Ausbreitung groß.