Sigmund Freud sieht eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Kultur des Menschen im Triebverzicht. Nicht immer, nicht überall, aber immer wieder einmal. Dabei versteht er den Verzicht nicht als Selbstquälerei, sondern als eine Form der Konzentration auf das innere Potenzial des Menschen, mit dem er die Welt als „Ko-Kreator“ mitgestaltet.

Karl Rahner, ein anderer Großer des vergangenen Jahrhunderts, hat dieses Potenzial in der spirituellen Grundstruktur des Menschen, in der mystischen Tiefe seines Wesens vermutet. Um dorthin zu gelangen, müsse der Mensch sich aber in der schwierigsten Art seiner Fortbewegung, in der Kunst des In-sich-Gehens, üben.

In diesem Zusammenhang hat vor ein paar Tagen bei einem Abendessen in der Wiener Hofburg Peter Handke vom „fruchtbaren Größenwahn“ gesprochen, der jeden Menschen dazu berechtigt, seine kleine Welt in eine große und schöne zu verwandeln. Das aber setzt voraus, über verordnete Fastenzeiten hinweg immer wieder einmal hinabzusteigen in die Kellergänge des eigenen Herzens, immer wieder einmal alles auf eine Karte zu setzen, das Verrücktsein nicht nur frisch Verliebten zu überlassen und sich in der Phantasie, der „Mutter aller Tugenden von morgen“ (Dorothee Sölle), zu üben.

Nur so kann Kultur wachsen und mit ihr ein einladend ansteckender, geradezu paradiesischer Lebensraum, in dem sich Menschen mit Leib und Seele, Herz und Hirn beim Wandern einer Landschaft, beim Planen einem Projekt, beim Tanzen dem Rhythmusund bei der Liebe einem Menschen hingeben.

Solche Überlegungen zum Beginn der 40-tägigen Fastenzeit zielen nicht auf Entbehrung bis hin zur Selbstaufgabe, sondern auf das, was die griechische Antike „metanoia“ nennt und damit das Gewinnen einer neuen Sicht auf die Welt meint. Was bliebe denn vom Menschen übrig, wenn es ihm nur um Selbstlosigkeit ginge? Wer sein Selbst loswird, wird alles verlieren. Verzichten aber zielt auf das gerade Gegenteil, auf not-wendende Horizonterweiterung, die neben der verständlichen Sorge um den persönlichen Vorteil eines Menschen immer auch das gemeinsame größere Ganze nicht aus den Augen verliert.

Mentalität der „Ressourcenausnutzung“

Eine einseitige Mentalität der „Ressourcenausnutzung“ benötigt daher dringend den korrigierenden Blick einer Kultur der „Potenzialentfaltung“, die das in jedem Menschen schlummernde Vermögen entdeckt und ihm dabei behilflich ist, es für sich und zum Wohle vieler zu heben. Bereits zur Mitte der 1970er-Jahre hat Erich Fromm in seinem Alterswerk „Haben oder Sein?“ darauf hingewiesen.

Auf der Suche nach den „seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ warnt er vor einer Lebenspraxis des alleinigen Haben-Wollens; wer so sehr am Besitz orientiert ist, dass ihm beim Wort „Vermögen“ nur „Bares als Wahres“ einfällt und beim Wort „Verzicht“ Verlust, muss nach und nach blind werden für die Schönheit dieser Welt und wie er diese mitgestalten könnte. Das ursprünglichste „Vermögen“ eines Menschen liegt demnach nicht in erster Linie „auf der hohen Kante“, sondern in seinem Innersten, dort, wo er täglich Entscheidungen darüber zu treffen hat, was ihm wichtig ist, was er kraft seiner Liebe, seines Geistes und seines Tuns „vermag“.

Die Grundlagen für diese Überzeugung schöpft Erich Fromm aus den Schriften von Karl Marx und Meister Eckhart. Beide schreiben und argumentieren auf der Basis einer am eigenen Leib erfahrenen Alltagspraxis, die das Leben dort erfüllter macht, wo ein Mensch auf die ihm eigenen Kräfte der Liebe, der Vernunft und seines produktiven Tuns vertraut. Im Gegenzug erfahren sie, dass das Leben in Wirklichkeit leer, langweilig und unerfüllt bleibt, wenn ein Mensch sich darin verliert, sein Leben nicht aus eigener Kraft zu leben, sondern es mithilfe von Surrogaten, Ersatzstücken und Krücken auszufüllen versucht.

Befriedigen und Stillen

Er merkt dann sehr bald, dass das Befriedigen eines Bedürfnisses etwas anderes bedeutet als das Stillen seiner Sehnsucht. Wer nur Bedürfnisse stillt, wird immer wieder hungrig, im schlimmsten Fall süchtig werden. Wer sich hingegen immer wieder um die innere Stimme seiner Sehnsucht kümmert, wird wenigstens hin und wieder glücklich sein können. Für Fromm ist deshalb die Notwendigkeit einer radikalen menschlichen Veränderung nicht nur eine ethische oder religiöse Forderung, sondern die zentrale Voraussetzung für das nackte Überleben der Menschheit:

Radikale seelische Veränderung

Richtig leben“, sagt Fromm, „heißt nicht länger, nur ein ethisches oder religiöses Gebot zu erfüllen. Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab. Dieser Wandel im Herzen des Menschen ist jedoch nur in dem Maß möglich, in dem drastische ökonomische und soziale Veränderungen eintreten, die ihm die Chance geben, sich zu wandeln, und den Mut und die Vorstellungskraft, die er braucht, um diese Veränderung zu erreichen.“

Keine Probleme, nur Lösungen

Etwas von diesem Mut und von dieser Vorstellungskraft konnte ich im vergangenen Oktober beim Besuch von André Hellers Zaubergarten „Anima“ in Marrakesch erleben. Mein erster Blick dort fällt auf eine Fotografie vom September 2010: Staub, Wüste, acht Hektar völliges Brachland, kein auch noch so kleiner Grashalm weit und breit, aber ein Ort mit betörend schöner Aussicht, in den sich der Schöpfer dieses Gartens bedingungslos, „ohne Sprungtuch“, wie er sagt, verliebt und all seine Erfahrungen, seine Talente, seine Beharrlichkeit und seine Ersparnisse hineininvestiert in der persönlichen Gewissheit, dass es letztendlich keine Probleme, sondern nur Lösungen gibt. Die Grundlage allerdings für eine solche Haltung sei, so Heller, eine spirituelle, die ihn von innen her dazu bewegt, den klugen Bedürfnissen seiner Seele zu folgen und die Chancen zu nützen, sich in den Herausforderungen vielfältiger Lernprozesse zu bewähren und zu verändern.

Damit erlebt er eine neue Dimension von Verzicht, die nicht „Selbstquälerei“, sondern die Kunst ist, das geheimnisvolle „Selbst“ des Menschen, das ohne Gemeinschaft nicht lebensfähig ist, so zu gestalten, dass es Lust auf eine Schönheit bekommt, die nie nur einem Menschen allein gehören will, sondern ein Paradies zu entwerfen vermag, in dem alle Menschen willkommen sind.

Nach Stunden meines Aufenthaltes dort gehe ich im Staunen verwandelt und ermutigt fort. Vielleicht liegt ja gerade darin die eigentliche Faszination auch des Verzichts: Alles wegzulassen, was nicht so wichtig ist, um möglichst ungestört sich dem Schönen, dem Echten, dem Wahren widmen zu können. Wer darüber (noch oder wieder) zu staunen vermag, gerät wenigstens in solchen Momenten nicht in Versuchung, sich anderen Menschen gegenüber als etwas Besseres vorzukommen, geschweige denn als Schöpfer eines solchen Gartens sich mit Gott zu verwechseln.

Beim Verweilen in diesem Zaubergarten fühle ich mich „entschleunigt“ und es fällt mir das kleine Gedicht von Günter Grass mit dem ironischen Titel „Tour de France“ ein: „Als die Spitzengruppe / von einem Zitronenfalter / überholt wurde / gaben viele Radfahrer / das Rennen auf.“