Ein Satz im Buch macht Angst: „Gehen Sie nie in ein Krankenhaus, wenn es nicht wirklich notwendig ist. Wer es gesund betritt, geht mit einer Diagnose wieder raus.“ Sie sind einer der Autoren und Spitalsarzt – meine Sie das ernst?

Rudolf Likar: Natürlich ist das bewusst zugespitzt. Wir wollen als Mediziner mit über 30 Jahren Erfahrung aber nicht nur Probleme, sondern auch Lösungen aufzeigen. Weil: Derzeit haben wir eine destruktive Politik, keine konstruktive, lösungsorientierte. Zum Beispiel: Warum gibt es die Diagnose „Gesund“ nicht? Ganz einfach deshalb, weil man damit den Patientenbesuch nicht verrechnen kann, ein niedergelassener Arzt genauso wenig wie ein Spital. Da müssen wir etwa ansetzen.

Im Buch beschäftigt sich das Autorenteam damit, dass vor allem Kassenärzte immer weniger Zeit für Patienten haben. Bei einem Zeit-Vergleich mit 67 Ländern landet Österreich abgeschlagen auf Platz 52.

Durch das Wegrationalisieren der Zeit für die Zuwendung zum kranken Menschen treibt man der Medizin die Seele aus. Der Effekt ist, dass wir eine Fünf-Minuten-Medizin haben, wenn man etwas verdienen will, brauche man möglichst viele Patienten, außer man ist Wahlarzt. Unser Lösungsansatz: eine Pauschalabrechnung oder ein fixes Gehalt für Kassenärzte.

Gibt es aus der Zwei-Klassen-Medizin überhaupt einen Ausweg? Die Doppelmoral der Politik – Schimpfen auf die Zweiklassenmedizin und gleichzeitig das Geld der Klassenpatienten für die Budgets der finanzmaroden Spitäler zu brauchen – ist offensichtlich.

Wir sprechen uns nicht dagegen aus, dass ein Privater in die Gesundheit investiert. Aber wenn in Privatkliniken nur noch Patienten operiert werden, die das geringste Risiko haben – und die öffentlichen Häuser die Risikofälle bekommen, oder einspringen müssen, wenn etwas schiefgeht, dann muss ein Teil der Einnahmen der Privatkliniken ins öffentliche System einfließen. Denn es geht nicht, dass Gewinne in dem Bereich privatisiert und Verluste sozialisiert werden.

Sie behandeln auch den Patienten mit deutlichen Worten.

Ein Patient hat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Nämlich, dass er mithilft bei der Genesung, mit Bewegung und gesunder Ernährung. Außerdem gehört ein Umdenken bei der Prävention dazu. Nur zwei Prozent aller Gesundheitsausgaben fließen in die Prävention. Das Bewusstsein dafür muss schon in Schulen geschaffen werden. Wir geben zwar viel Geld dafür aus Vitaminpillen zu schlucken oder vegan zu leben – aber für die Basis tun wir viel zu wenig.

Viele Patienten gehen aufgrund langer Wartezeiten bei niedergelassenen Ärzten lieber ins Spital, weil sie dort schneller versorgt werden. Ist eine Ambulanzgebühr notwendig?

Wenn Patienten ohne Zuweisung kommen und es sich um keinen Akut- oder Notfall handelt, dann könnten die Patienten die Leistungen, die sie beziehen, bezahlen – sozial gestaffelt und abgefedert.

Die Pharmabranche bezichtigen sie, dass sie Krankheiten erfindet. Wie konnte es so weit kommen?

Wir brauchen die Pharmaindustrie. Aber was derzeit passiert, kann so nicht weiter funktionieren, Man kann sich von Firmen nicht mehr so ethisch unter Druck setzen lassen. Da werden auch Institutionen wie die EU eingreifen müssen.

Der Pflege und alten Menschen ist ein Schwerpunkt gewidmet: Hat die Politik versagt, weil sie sich um das Thema Pflegepflichtversicherung drückt – oder haben es nicht auch Menschen, Familien verlernt, mit ihren Alten zu leben, sie zu pflegen?

Seit der Pflegeregress abgeschafft ist, sind die Pflegeheime überfüllt. Man hat vergessen in der Hauskrankenpflege Strukturen zu schaffen. Da muss man jetzt dringend ansetzen, neue Angebote schaffen. Jetzt werden viele Alte ins Heim abgeschoben . . . Die meisten wollen gar nicht dorthin, aber die Menschen fragt keiner.

Sie beschreiben auch kritisch den Kampf auf Intensivstationen gegen den Tod in aussichtslosen Fällen.

Der Tod wird als biologischer Systemfehler betrachtet. Bis zum letzten Atemzug. Aber der Tod gehört wieder zurück ins Leben gerufen. Wenn man ein hohes Alter erreicht hat, ist der Tod ein normales, biologisch vorgesehenes Ereignis, und Mediziner müssen ihn nicht wieder zu einer Diagnose machen.

Das Autorenteam analysiert die aktuelle Ärzte-Ausbildung kritisch.

Bei der öffentlichen Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium wird so etwas wie eine soziale Kompetenz nicht abgebildet. Die jetzige Form der Prüfung führt dazu, dass sozial Bessergestellte eher durchkommen. Und das sind meistens jene, die in Städten und nicht am Land verwurzelt sind.