Friedensverträge sollten, so ist es die Intention und auch das allgemeine Verständnis, nach Waffenstillständen eine neue Ordnung schaffen, die sowohl den Ausgang des jeweiligen Krieges in seinen machtpolitischen Verschiebungen als auch die Gestaltbarkeit einer konfliktfreien Zukunft im Auge haben sollte. Intention und Realisierung sind aber nicht immer deckungsgleich. „A Peace to End All Peace“ ist der Titel des bemerkenswerten Buches von DavidFromkin, der sich mit der Friedensordnung im Nahen Osten nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigt.

Nun wäre dieser Befund für die Friedensverträge, die in den Pariser Vororten Europa, also Deutschland, Österreich, Ungarn und Bulgarien betrafen, wohl zu hart. Uneingeschränkt gilt dies wohl nur für den Vertrag von Sèvres. Es ist aber nicht zu leugnen, dass auch in Europa einerseits die Gewalt kein Ende fand (Millionen von Toten, vor allem im russischen Bürgerkrieg, aber auch an anderen Schauplätzen bis hin nach Irland, sprechen eine deutliche Sprache) und dass andererseits manch getroffene Entscheidung den Keim für künftige Konflikte schon in sich trug. Bei allem Bemühen, wie es etwa in der Gründung des Völkerbundes oder in der Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sichtbar wird, deutete doch die Durchsetzung dominant machtpolitischer Konzepte das Potenzial revanchistischer Positionen an.

Parlamente, Revolutionäre und Heilserwartungen

Im Gegensatz zu den Friedensregelungen der Vormoderne, bei denen es um Elitenkompromisse ging, die man, wie etwa am Wiener Kongress, mehr oder weniger mühsam ausverhandeln konnte, waren nun zusätzliche Kräfte auf dem Spielfeld. Es gab Parlamente und Massenparteien, es gab revolutionäre Bewegungen und es gab nationale Heilserwartungen. Jeder Friedensvertrag hatte auch die von den Siegermächten gefühlte Bedrohung durch den russischen Bolschewismus und dessen Ausläufer und Boten im Zentrum Europas mitzuberücksichtigen und gleichzeitig die Legitimation nach innen zu finden, um die Erwartungen der eigenen Bevölkerung nicht zu enttäuschen. So setzen St. Petersburg, Budapest oder Rom ebenso Handlungsrahmen wie die imperialistischen Interessen, die ethnischen Vorurteile oder gemachte Zusagen an einzelne Bevölkerungsgruppen. Dazu kamen noch die durchaus unterschiedlichen Lesarten des Grundlagendokuments, der „14 Punkte“ des US-amerikanischen Präsidenten Wilson. Zudem beeinflussten in der Abfolge der getroffenen Friedensverträge die schon gefassten Beschlüsse die Spielräume bei den später beginnenden Verhandlungen.

Österreichs Delegation mit Staatskanzler Karl Renner an der Spitze.
Österreichs Delegation mit Staatskanzler Karl Renner an der Spitze. © APA/PICTUREDESK

Der erste „Friedensvertrag“ im Umfeld des Ersten Weltkrieges war der Friede von Brest-Litowsk, abgeschlossen am 3. März 1918 als rücksichtsloser Diktatfriede der Mittelmächte, nachdem sich die Hoffnung des revolutionären Russlands auf eine Ausbreitung der Revolution als trügerisch erwiesen hatte, obwohl der österreichische Jännerstreik und der Matrosenaufstand von Cattaro Signale in diese Richtung waren. Sowohl die russische Vision von einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen bei gleichzeitiger Internationalisierung des Klassenkampfes als auch der durchgesetzte Gewaltfriede der Mittelmächte nach rein militärisch-ökonomischen Interessen waren jedenfalls keine Modelle für die in Paris letztlich angestrebte neue Weltordnung.

Als im Januar 1919 die Pariser Friedenskonferenz begann, aus der letztlich fünf Friedensverträge hervorgingen (mit Deutschland in Versailles am 29. Juni 1919, mit Österreich in Saint-Germain-en-Laye am 10. September 1919, mit Bulgarien in Neuilly am 27. November 1919, mit Ungarn in Trianon am 4. Juni 1920 und mit der Türkei in Sèvres am 10. August 1920), war abzusehen, dass idealistische Konzeptionen, wie etwa die berühmten „14 Punkte“ des amerikanischen Präsidenten Wilson, an machtpolitischen Fragen zerschellen mussten. Selbst Siegermächte wie Japan mussten zur Kenntnis nehmen, dass man mit ihnen nicht auf Augenhöhe verkehrte, sondern dass sie, wie auch China und in den Krieg involvierte Kolonien, mit „rassischen“ Vorbehalten konfrontiert wurden.
Man hatte Krieg geführt, „um Ergebnisse zu erzielen“ und Interessen durchzusetzen, das galt für Europa und auch für die Frage der ökonomischen und politischen Führungsrollen in der Welt. Und man hatte in den Köpfen der Politiker der Siegermächte jeweils eigene Ideen von einer künftigen Friedenssicherung.

Im Burgenland versuchten ungarische Freischärler zu verhindern, dass Österreich zugesprochenes Gebiet auch in Besitz nehmen konnte.
Im Burgenland versuchten ungarische Freischärler zu verhindern, dass Österreich zugesprochenes Gebiet auch in Besitz nehmen konnte. © APA/PICTUREDESK

Die Bedingungen des Friedens

Der Friedensvertrag mit Deutschland gab bereits Ton und Inhalte vor. Die Verhandlungen zeigten auch die Gegensätze zwischen den Vorstellungen der Siegermächte, wobei Frankreichs Position als direkter (und damit potenziell bedrohter) Nachbar die stärkste war. Sie setzte sich in den Grenzfragen weitgehend durch. Deutschland verlor ein Siebentel seines Gebiets und die Kolonien. Es waren aber vor allem zwei Bereiche, die in der Folge die Verhandlungen mit Österreich präjudizieren sollten. So brachte der Artikel 80 des Versailler Vertrags das „Anschlussverbot“, das machtpolitisch nachvollziehbar war, aber doch einer wichtigen Grundlage der Friedensverträge, dem propagierten „Selbstbestimmungsrecht“, widersprach. Und es gab den Artikel 231, der sich zur Urheberschaft des Krieges äußerte und diese Deutschland (und somit auch seinen Bündnispartnern) zuschrieb. Dies sollte, neben den ökonomischen (Reparationszahlungen) und militärischen (Abrüstung und zahlenmäßige Beschränkung auf 100.000 Mann) Auflagen, den Revisionsbemühungen der Folgejahrzehnte Ansatzpunkte bieten.

Die österreichische Delegation reiste schon im Mai 1919 nach Paris, wurde aber zu den Verhandlungen nicht zugelassen. Man hatte Persönlichkeiten auch aus jenen Teilen der Habsburgermonarchie ins Team geholt, die einerseits einen deutschsprachigen Bevölkerungsteil hatten, die andererseits aber von den in dieser Zeit schon existierenden (und trotz der Kriegsteilnahme als Teile der Habsburgermonarchie bereits als Siegermächte akzeptierten) neuen Staaten beansprucht wurden. Als Resultat dieser Maßnahme wurde letztlich nur erreicht, dass gleichzeitig mit dem Vertrag von Saint-Germain ein Minderheitenschutzvertrag mit der Tschechoslowakischen Republik unterzeichnet wurde, der den „Deutschen“ und den „Slowaken“ Grundrechte zusicherte.

Österreichs Argumentation, 1914 als Staat noch gar nicht existiert und somit keinen Krieg begonnen zu haben, daher nur einer von mehreren Nachfolgestaaten des untergegangenen Habsburgerreichs zu sein, fand in Paris kein Gehör. Tschechen, Slowaken, Rumänen, Italiener, Kroaten und Slowenen waren Sieger, sie saßen bei den Friedensverhandlungen zumindest symbolisch am Tisch, die Deutsch sprechende Bevölkerung der Monarchie und die Magyaren blieben somit als die einzigen Verlierer übrig. Der Wunsch, einen Staatsvertrag anstelle eines Friedensvertrags zu erhalten (was 36 Jahre später mit ähnlicher Argumentation gelang), konnte 1919 in Saint-Germain nicht realisiert werden.

Am 2. September 1919 wurde der österreichischen Delegation in Saint-Germain der Friedensvertrag übergeben, der schließlich acht Tage später von KarlRenner unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag enthielt für Österreich weitgehend ernüchternde Bestimmungen zu den Grenzziehungen. In der Frage der Nordgrenze wurde das Recht auf historische, also alte Kronlandgrenzen, über das Recht auf nationale Selbstbestimmung gestellt. So kamen ganz Böhmen, Mähren und Schlesien und sogar einige Gemeinden Niederösterreichs an die Tschechoslowakei, was diesem Staat gut drei Millionen Menschen als deutschsprachige Minorität bescherte. Galizien fiel an Polen, die Bukowina an Rumänien. Südtirol, Welschtirol und das Kärntner Kanaltal kamen, wie auch Istrien, an Italien. Dalmatien, die Untersteiermark, das Mießtal und Seeland wurden dem neuen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) zugesprochen. In Unterkärnten südlich der Drau wurde eine Volksabstimmung angesetzt, als Resultat des „Kärntner Abwehrkampfes“. Das Gebiet verblieb bei Österreich, da sich auch die Mehrheit der slowenischsprachigen Bevölkerung Unterkärntens dafür aussprach. Die westungarischen Komitate wurden Österreich zugesprochen, wobei allerdings eine Volksabstimmung das Komitat Ödenburg/Sopron bei Ungarn beließ.

Emotional wichtig war die Untersagung der Führung des Namens „Deutschösterreich“ und auch die Wiederholung des im Versailler Vertrag fixierten Verbotes eines Anschlusses an Deutschland. Das Heer wurde auf einen Stand von 10.000 Berufssoldaten reduziert und es waren Reparationszahlungen vertraglich vorgesehen. Mit der Ratifizierung des Vertrags durch die Konstituierende Nationalversammlung am 21. Oktober 1919 musste die Republik den Namen „Deutschösterreich“ ablegen und die „Republik Österreich“ war somit formell entstanden, ohne dass dies bereits mit einer „Geburt der österreichischen Nation“ gleichzusetzen war.

Insgesamt fanden sich nur zwei Drittel der deutschsprachigen Bevölkerung der untergegangenen Monarchie im neuen Staat Österreich wieder. Im Lande selbst wurde die ökonomische und politische Lebensfähigkeit des Staates nachhaltig bezweifelt, was den Anschlusswunsch am Leben hielt, der sich knappe zwei Jahrzehnte später unter grundlegend anderen politischen Rahmenbedingungen realisierte.

Der Friedensvertrag mit Österreich war ausgehandelt, als in Ungarn noch die revolutionäre Räterepublik unter der Führung von Béla Kun am Ruder war. Dies erklärt auch, weshalb die westungarischen Komitate Österreich zugesprochen wurden. Der Friedensvertrag von Trianon wurde allerdings mit der konterrevolutionären Regierung geschlossen, aber die Bestimmungen von Trianon bedeuteten für die Ungarn dennoch ein bis heute nicht vollständig überwundenes Trauma, da dies der Beginn einer ungarischen Geschichte im 20. Jahrhundert war, die noch reicher an Brüchen und Verwerfungen ist als die österreichische.

Nährboden zur Legendenbildung

Insgesamt boten die Verträge in den Pariser Vororten einen guten Nährboden zur Legendenbildung. In Deutschland („im Felde unbesiegt“) entstand die „Dolchstoßlegende“ und revanchistische Parolen verdichteten sich zur nächsten Katastrophe. In Zentraleuropa hatte sich durch die Gründung eines Gürtels von Kleinstaaten die Zahl der ethnischen Minoritäten nicht verringert, sondern nur in den Hierarchien verändert. Von der Ostsee bis zur Adria folgten auf die Staatengründungen meist nur kurze demokratische Zwischenspiele, mit der Tschechoslowakischen Republik als großer Ausnahme. Die Grenzziehungen im Nahen Osten waren schließlich die Grundlage für blutige Krisen und Konflikte bis in die Gegenwart. Und der in den Verträgen nicht mitdiskutierte, wohl aber intendierte russische Sonderweg, der dieses Land über den Bürgerkrieg in die Isolation und, zumindest damit mit bedingt, in die Gewaltherrschaft Stalins führte, hatte die liberale Freihandelswelt, die ein Traum hinter den Verträgen war, entscheidend verkleinert und damit krisenanfälliger gemacht.
Der weitere Verlauf des 20. Jahrhunderts sollte zeigen, wie instabil das in Paris errichtete Fundament einer Weltordnung, die künftige Kriege vermeiden sollte, war.