Tief drinnen, im Jamtal, kündigt sich das Unglück schon einen Tag vorher an, erinnert sich Gottlieb Lorenz. Durch eine Lawine wird die beliebte Schutzhütte auf 2200 Metern Seehöhe, die er in vierter Generation bewirtschaftet, schwer beschädigt.
24 Stunden später, am Nachmittag des 23. Februar 1999, passiert am Talausgang rund 15 Kilometer weiter nördlich eine der größten Naturkatastrophen der Zweiten Republik – und eine familiäre Tragödie: Eine Lawine löst sich auf rund 2700 Meter unterhalb des Gipfelgrates und beginnt sich vom Grieskogel Richtung Tal zu walzen. Als Vorbote des Unheils schickt sie eine Schneestaubwolke mit bis zu 250 km/h Richtung Tal. 300.000 Tonnen Schnee, haben Experten errechnet, fressen sich wenig später bis ins Dorfzentrum Galtürs vor. Zerstören Häuser, zerdrücken Autos im bis zu acht Meter hohen und betonhart gepressten Lawinenkegel, begraben Menschen. Erwachsene und Kinder, Urlauber und Einheimische. Darunter auch Lorenz’ damals schwangere Frau und seine 78-jährige Mutter.

19.000 Menschen eingesperrt

Zwei von 38 Todesopfern, die dieses beispiellose Unglück am Ende fordert und im kleinen Tiroler Bergdorf eine Zäsur bedeutet. In der Erinnerung der Bevölkerung werden Ereignisse und Erlebnisse seither in die Zeit vor und nach der „großen Lahn“ katalogisiert.
Dass es in diesem Winter 1999 gefährlich werden würde, befürchten viele. Das Ausmaß wird aber unterschätzt. Ein Nordatlantiktief bringt sechsmal so viel Schnee wie in einem normalen Februar ins Paznauntal. Dazu kommen Wind, Regen, Sturmböen, die zu Verwehungen und einem instabilen Schneedeckenaufbau führen. Ein unheilvoller Mix. Die höchste Lawinenwarnstufe wird ausgerufen, die Silvretta Bundesstraße nach Galtür immer wieder gesperrt. 13.000 Touristen und 6000 Einheimische sind schon tagelang von der Umwelt abgeschnitten, werden an diesem Nachmittag des 23. Februar bei anhaltend dichtem Schneefall mit einem Fasstaubenrennen im Ortszentrum bei Laune gehalten, als es plötzlich dunkel wird.

Mehr als hundert Autos werden in den Schneemassen zerdrückt
Mehr als hundert Autos werden in den Schneemassen zerdrückt © APA/HANS KLAUS TECHT
Das Unglück hinterlässt Sachschäeden in der Höhe von elf Millionen
Das Unglück hinterlässt Sachschäeden in der Höhe von elf Millionen © ORF

Ein dumpfes Grollen erfüllt das enge Tal. Der sprichwörtliche „weiße Tod“ wütet durch die engen Gassen rund um den spitzen Turm der barocken Kirche. Die Glocke hatte gerade vier Mal geschlagen. Der Bürgermeister die Notfallsirene aus. Es ist kurz nach 16 Uhr. Die längsten 38 Stunden in der Geschichte des Orts beginnen.

Rettungskräfte können nicht ins Tal

Stunden, in denen die Menschen am Unglücksort auf sich alleine gestellt bleiben. Auf die verzweifelten Hilferufe der örtlichen Einsatzorganisationen nach Lawinensuchhunden, Schaufeln, Soldaten und Rettern kann in den Notfallzentralen in Landeck, Innsbruck und beim Bundesheer vorerst nicht reagiert werden. Die heftigen Schneefälle lassen keine Hubschrauberflüge zu. Drei Stunden nach dem Unglück wird in Galtür der letzte Überlebende aus der Lawinen gerettet, einen Tag später verschüttet eine weitere Lawine den Weiler Valzur vier Kilometer von Galtür und fordert sieben Menschenleben.
An die Toten erinnert eine eigene Gedenkstätte im „Alpinarium“, einem Dokumentationszentrum am Westende des Orts, das in einem der beiden bis zu zwölf Meter hohen Schutzwälle aus Naturstein untergebracht ist, die nach 1999 gebaut wurden. Hoch oben in den steilen Südhängen der Bergkette mahnen mächtige Lawinenverbauungen, an die Versuche, die Gefahr in den Griff zu bekommen. 6,7 Millionen Euro wurden allein in Galtür investiert.

Auch die Jamtalhütte ist seither mit dicken Mauern aus Stahlbeton, Fenstern aus Panzerglas und massiven Eisenverstrebungen gesichert. „Sie ist gebaut wie ein Bunker“, sagt Gottlieb Lorenz. Er hadert nicht mit dem, was vor 20 Jahren passiert ist: „Derartige Lawinen sind Naturereignisse – das ist einfach so.“