Meine Mutter feiert in wenigen Tagen ihren 97. Geburtstag. Für ihr Alter geht es ihr gut. Sie kann sich ohne Hilfe nicht mehr fortbewegen und die Namen ihrer großen Enkel- und Urenkelschar bringt sie manchmal durcheinander. Aber sie hat keine Schmerzen und keine medizinisch diagnostizierte Erkrankung. Früher gab es für ihren Zustand den Begriff Altersschwäche, ein Wort, das aus dem heutigen Sprachgebrauch verschwunden ist.
Wenn gegenwärtig ein alter Mensch an oder mit Corona stirbt, heißt es, er sei vorgeschädigt gewesen oder habe Vorerkrankungen gehabt. Altwerden ist oft mit Mühsal und Schmerzen verbunden, aber es ist kein Schaden. Das Alter, finde ich, ist auch keine Krankheit, die man auskurieren kann – sie ist unheilbar. Meine Mutter sagt über sich selber gerne: „Es lässt halt alles ein bissl nach.“
Wenn sie Raum und Zeit bisweilen wie einen Traum durchlebt, meint sie belustigt: „Ich bin schon ganz verwirrt.“ Ich kann mich nicht erinnern, wann meine Mutter zum ersten Mal nicht mehr allein gehen konnte. Es gab, glaube ich, keinen genauen Zeitpunkt, es war ein langsamer Prozess des Nachlassens. Hin und wieder frage ich mich, ob ich auch so alt werde wie meine Mutter und wie mich dann meine Kinder erleben. Zu den Segnungen des letzten Lebensabschnittes gehört, dass man sich und den anderen nichts mehr beweisen muss. Ich versuche nicht mehr, ein anderer zu werden, sondern stehe zu meinen Schwächen, die ich nicht ändern kann. Unser Leben ist begrenzt, alle Organe werden schwächer. Das Herz eines 90-Jährigen arbeitet nicht mehr so wie das eines Jungen. Die Haut im Gesicht lässt sich glätten, was jedoch im Kopf vorgeht, kann man kaum beeinflussen. Der Urgroßvater meiner Kinder war bis zuletzt ein sehr humorvoller Mensch. Als sich seine Bedienerin einmal verspätete, schrieb er ihr, ehe er das Grab seiner Frau aufsuchte, folgende Nachricht: „Bin auf dem Friedhof – komme aber wieder!“ Er verstarb einige Jahre später friedlich an Altersschwäche, im 101. Lebensjahr.