Der Kraftort meiner Kindheit lag im hintersten Winkel des Thörler Grabens. Dort, wo nur noch das Rauschen des Baches und Zwitschern der Vögel die Stille durchdrang, lebte die Großmutter, vorwiegend von und mit ihrem botanischen Paradies. In dutzenden Beeten, fein säuberlich vom Unkraut befreit, wuchs und gedieh alles, was den ortsnahen Händler ersetzen konnte, denn die Kirchentreue mied „diesen furchtbar roten KONSUM“ wie wohl nur der Teufel das Weihwasser.

Die Enkelkinder fungierten im Garten wahlweise als Schädlinge oder deren Bekämpfer. Pro zermantschtem Junikäfer ließ Oma 10 Groschen springen, ein Kohlweißling im Netz war sogar einen Schilling wert. Also übten wir uns im Dauerlauf, jagten dem Kleinvieh hinterher und stellten Fallen auf, in die wir wenig später selbst wieder tappten. Abgekämpft und schweißgebadet krochen wir irgendwann unter die Erbsenstauden, um die noch hauchdünnen, aber süßesten Schoten zu öffnen oder klammheimlich kleine Karotten aus der Erde zu ziehen. Sobald Großmutter uns entdeckte, ging die Jagd wieder los – meist auf Basis geänderter Rollenverteilung.  

Kurzen Unstimmigkeiten zum Trotz war Oma Zentrum und gesprächiger Ankerpunkt inmitten des Gartenidylls. Wir hingen an ihren Lippen, wenn sie von Nazis und Russen erzählte oder vom kleinen Mädchen, das im Strudel des Bachs verloren ging. Im Umkreis von fünf Kilometern kannte sie Gott und die Welt, nur nicht „diese Dosenfrauen“ vom benachbarten Tennisplatz, die – „anstatt anständig zu kochen“ – offenbar lieber Konserven öffneten und ihre Zeit beim Ballklopfen verplemperten.

Die Großmutter hingegen war ständig auf Achse, stützte Gladiolen und Rosen, goss das Gemüse oder pflückte mit krummem Rücken stundenlang Walderdbeeren. Erst wenn ihre Messingkanne randvoll gefüllt war, erlaubte sie sich aufzusehen und über die Verarbeitung der Früchte zu diskutieren. Stanitzel mit Schlag erschienen uns am vernünftigsten, doch die Väter hatten meist eine andere Vorstellung, die sich spätabends als Beeren-Bowle in der lauschigen Veranda ergoss. Die Jugend bekam eine süße Kinderversion – dass der älteste Cousin manche Verhaltensauffälligkeit vertauschten Schüsseln zu verdanken hat, bleibt bis heute unbestätigtes Gerücht. 

Dieser Tage haben wir uns wiedergetroffen, in Großmutters Garten, der schon lange ohne Oma ist. Der Tennisplatz liegt inzwischen verwaist, sie hätte ihre Freude daran. Die Urenkel tobten dreisprachig durchs Gelände, das nun vor allem den Bienen als Futterstätte dient. Weil der Tante das Tierwohl wichtig ist, verdrängten bunte Wiesenblumen weitgehend die braunen Beete-Wellen. Doch wenn man genau hinsieht, blitzt hier und da noch eine Walderdbeere auf.
Einen schönen Sonntag wünscht