Bedauerlicherweise ist es leider schon eine Weile her, als uns auf der Lienzer Hütte, hoch über dem Debanttal, der seinerzeitige Klassenvorstand zum dreißigjährigen Matura-Treffen die Mathematik-Arbeit aushändigte, eingehüllt in den alten Umschlag mit den leeren, linierten Zeilen und dem verschmierten Schulstempel. Auf dem Holztisch lagen ausgebreitet analoge, vergilbte Klassenfotos. Aus den Hüttenboxen drang mitgebrachte Musik mit viel Pink Floyd und Supertramp. Der Anblick des Schriftstücks löste ein Gefühl von Fremdheit und Staunen aus. War man wirklich der, der die Aufgaben gemeistert hat, beurteilt mit einer sehr guten Note? Alles wirkte unvertraut und von fremder Hand.

Dem Schriftbild konnte man das Bemühen um adrette, äußere Form entnehmen, aber noch wenig Persönlichkeit oder Charakter. Und die Aufgaben selbst, die die junge Füllfederhand angeblich souverän gelöst haben soll, wuchsen sich in der überheizten Berghütte zu einem einzigen Rätsel aus. Hätten wir sie frisch gestellt bekommen, wir hätten nicht einmal die Fragestellungen verstanden. Am Zirbentisch wurden zaghaft Fragen laut, Fragen zu Verfall und Vergänglichkeit und Fragen nach der Sinnhaftigkeit, Wissen auf einen Punkt hin zu aggregieren, zu entladen und anschließend dem Verdunstungsprozess zu überantworten. War am Ende die Schule eine einzige, monströse Vergessensleistung?

Nachhaltiger und prägender waren da schon die Prozesse der Gruppendynamik. Verblüffend zu sehen, wer mit wem wieder wie selbstverständlich drei Jahrzehnte später den Steig hochwanderte, und wer neben wem in stiller Übereinkunft Platz nahm wie damals: Die frühen Kräfte von Nähe und Distanz entpuppten sich als ungleich nachhaltiger als das angeeignete Reifeprüfungswissen. Nihilistisch endete der lange Abend dennoch nicht. Wir waren uns einig: Was blieb, war nicht das fiebrige Nichts, sondern die Erinnerung an die Schönheit und Besonderheit der Rituale am Ende einer Wegstrecke: nicht so sehr an das stille, stundenlange Schreiben in den Reihen, wohl aber an die Verabschiedung im zu großen, dunklen Anzug, oder, zuvor, an das Hintreten vor die Kommission bei der „Mündlichen“ und an das Gefühl, in diesem Augenblick durch das vertiefte, kumulierte Wissen im jeweiligen Fach wissender zu sein als die Erwachsenen, die einem freundlich oder schon ermattet zuhörten. Das gab uns ein Gefühl von Erhabenheit, durch nichts begründet, aber betörend schön.

An diesen zeremoniellen Stolz erinnert in der heutigen Ausgabe der Philosoph Konrad Paul Liessmann in seiner Kolumne. Er bejaht Augenmaß und Rücksichtnahme, hat aber herzlich wenig Verständnis für die Schülerproteste und noch weniger für die Solidarisierung durch die Erwachsenen. Dass man die Matura kleinhackt wie einen dürren Christbaum zu Dreikönig, hält Liessmann für ein untrügliches Zeichen einer minimalistischen Verflachungs- und Einebnungsideologie. Dann lieber ganz verzichten auf die Matura und den hohlen Schein. Der feurige Text ist das streitbarste Stück der Ausgabe. Wir haben es ein bissl übermütig auf die Titelseite gehoben und im Netz ein Forum eröffnet: Hat Liessmann recht?

Im Kern ja, bekennt freimütig