Eigentlich war das Klima in Russland schon in den letzten Jahren frostig – und das nicht nur im Winter: Politisch ging der russische Staat massiv gegen Andersdenkende vor. Nicht-regierungstreue Medien gerieten unter Druck. Oppositionelle wurden von Wahlen ausgeschlossen. Zugleich wurde die Liste der kritischen Geister, die gewaltsam ums Leben kamen, immer länger. Zuletzt überlebte Alexej Nawalny einen Angriff mit Nowitschok nur knapp.

Jetzt droht der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ das Aus. Gestern begann vor dem Obersten Gericht in Moskau ein Prozess zur Auflösung der Organisation. „Memorial“ ist die älteste, stärkste und angesehenste Organisation in Russland, die sich für politische Gefangene einsetzt; zugleich arbeitet die Ende der 1980er Jahre gegründete Gesellschaft auch Menschenrechts-Verbrechen aus der Sowjet-Zeit auf. Beides gefällt dem heutigen russischen Staat nicht.

Präsident Putin, der selbst aus den Geheimdiensten stammt, gilt heute als „oberster Historiker“ des Landes. Er definiert, welche Aspekte der Geschichte der Sowjetunion beleuchtet werden und welche nicht. Die Erinnerung an die Sowjetunion soll dazu dienen, den Nationalstolz zu heben – immerhin hat man einst den Faschismus besiegt. Die Geheimdienste sehen sich als Nachfolge-Organisationen des KGB und NKWD der Stalinzeit. An die Opfer der Repressionen von einst darf erinnert werden. Doch die Täter sollen nicht vor den Vorhang geholt werden. Genau sowenig wie die Täter von heute.