In beängstigendem Tempo entfernt sich die Türkei von der Europäischen Union. Waren die autokratischen Tendenzen schon vor dem gescheiterten Militärputsch vom Juli unübersehbar, so führt Staatspräsident Recep Tayyip Erdoan das Land inzwischen jeden Tag ein Stück weiter in die Diktatur. Für die EU stellt sich die Frage: wie reagieren?

In der Putschnacht verteidigten die Türken ihre Demokratie gegen das Militär. Doch seit seine Regierung kurz danach den Ausnahmezustand ausrief, hat Erdoan selbst Demokratie und Meinungsfreiheit mit Füßen getreten, wichtige Grundrechte und die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt. 36.000 angebliche Verschwörer sind inhaftiert, mehr als 100.000 Beamte verloren ihre Arbeit, rund 4500 Firmen und Institutionen wurden verstaatlicht.

Rechtssicherheit existiert nicht mehr. Die Gewerkschaften wurden erdrosselt, die Demonstrationsfreiheit stranguliert, Justiz, Universitäten und Presse gleichgeschaltet. Jeder Regierungskritiker wird zum Verräter oder Antipatrioten abstempelt, zivilgesellschaftliche Vereine massenhaft geschlossen. Erdoan könnte sogar die Todesstrafe wieder einführen. Zu Recht ist von einem „zivilen Putsch“ die Rede.

Inzwischen hat der Präsident die letzte Phase eingeleitet – die Ausschaltung der parlamentarischen Opposition. 2000 Mitglieder der prokurdischen Linkspartei HDP sind bereits inhaftiert, darunter die Parteispitze und ein Viertel der Parlamentsfraktion, und das Parteiverbot liegt in der Luft. Jetzt nimmt Erdoan die größte Oppositionspartei CHP ins Visier. Nachdem die sozialdemokratische Partei die Verhaftung der kurdischen Abgeordneten kritisierte, verklagte der Präsident alle CHP-Abgeordneten wegen Beleidigung und Unterstützung des Terrorismus. Führende Parteimitglieder wurden bereits mit einem Ausreisebann belegt. Für sein erklärtes Ziel eines autoritären Präsidialsystems ohne lästige demokratische Kontrollen fehlt Erdoan nur noch die juristische Legitimierung. Deshalb wird es wohl im Frühjahr ein Referendum geben, für das er sich die Unterstützung der Nationalistenpartei MHP sicherte. Trotz allem steht die Bevölkerung laut Umfragen mehrheitlich hinter dem „Boss“.

Was soll die EU tun? Soll sie die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beenden oder auf Eis legen? Soll sie das Land gar mit Sanktionen belegen? Und mit welcher Begründung? Denn die totalitären Regime Saudi-Arabiens, Irans oder Ägyptens werden bekanntlich nicht sanktioniert. Das Dilemma der EU ist klar: Sie setzt auf die Türkei in der Flüchtlingskrise und im Kampf gegen den islamischen Staat. Mit dem Flüchtlingsabkommen vom März hat sie sich erpressbar gemacht und eine selbstbewusste gemeinsame Außenpolitik unterminiert. Auf Dauer hilft daher nur eine kohärente europäische Flüchtlingspolitik, ein Einfrieren der Gespräche und Sanktionen: Stellt sich die Türkei gegen die Grundwerte der EU, verdient sie es auch nicht, deren wirtschaftliche Vorzüge zu genießen.