Tausende haben sich in den Abendstunden in Wien, Graz, Linz, Wels versammelt, um der Landärztin zu gedenken, die ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Wegen wiederholter Drohungen und Einschüchterungsversuchen durch Impfgegner und Corona-Leugner sah sie keine andere Wahl, als ihre Praxis zu schließen. 

Dass Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, deren einzige Mission es ist, Menschen zu helfen, in der Hochphase der Pandemie angepöbelt, eingeschüchtert, attackiert werden, ist nicht nachvollziehbar. Sich in den Echokammern der sozialen Medien so zu verrennen, dass medizinisches Personal zum Feindbild auserkoren wird, muss uns zu denken geben. Wo und wann sind die Menschen falsch abgebogen? 

Abgesehen von der besonderen Herausforderung, wie man diesen Leuten, die sich in den dunkelsten Weiten des Internets herumtreiben, das Handwerk legen kann, bleibt wohl eine politisch relevante Schlüsselfrage übrig: Sollte Corona eines Tages tatsächlich nur noch grippeähnliche Ausmaße einnehmen, renkt sich dann alles wieder ein? Kehren wir zur alten Normalität wieder zurück? Oder bleibt es eine Illusion?

In den letzten Wochen sah sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit einem neuen Phänomen konfrontiert. Wo immer er öffentlich auftrat, ob bei den Bregenzer oder den Salzburger Festspielen, beim Stadtfest von Eferding oder in Wels wurde er von einer kleinen Gruppe lautstark ausgebuht, ausgepfiffen und als „Volksverräter“ verhöhnt. FPÖ-TV berichtet genüsslich darüber. Da Van der Bellens Auftritte angekündigt werden, kann man davon ausgehen, dass die Proteste orchestriert sind, es sich um keine Spontanaktion handelt. In der Mozart-Stadt führte die Gruppe sogar einen Galgen mit. Angeblich stecken die Identitären, die Organisatoren der Corona-Proteste, andere Aktivisten dahinter. Zwar sollte man der Splittergruppe nicht auf den Leim gehen, in ihrer Militanz sind die Leute für Argumente nicht mehr empfänglich. Haben wir einen Rubikon überschritten?

Äußerst ruppig gestaltete sich am letzten Freitag auch ein Bürgerdialog, zu dem der deutsche Vizekanzler Robert Habeck in Bayreuth geladen hatte. Corona war nicht mehr das Thema, alles drehte sich um den Krieg. Der Grün-Politiker wurde mit Hau-ab-Rufen empfangen, als „Kriegstreiber“  verhöhnt. In der Debatte meldeten sich Gewerbetreibende, die um ihre Existenz fürchten, Bürgerinnen und Bürger, die Abstiegsängste plagen, zu Wort. Dass die Sanktionen mehr den Deutschen als Putin schaden würden, dieser Vorwurf wurde immer wieder vorgebracht. Zumindest wurden da noch Argumente ausgetauscht. 

Die Flüchtlingskrise, die Pandemie und jetzt eben der Krieg haben die gesellschaftlichen Gräben dramatisch vertieft. Gefährlich wird die Polarisierung allerdings, wenn die Divergenzen nicht mehr in einen Diskurs münden, sondern in verbale Gewalt umschlagen, wenn nicht mehr Argumente ausgetauscht werden, sondern wenn blanker Hass regiert. Bis zum Terror, lehrt die Historie, ist es oft nicht mehr sehr weit. 

Gepaart mit dem tiefen Misstrauen in die Politik, dem Gefühl, dass die Regierung trotz wahrscheinlich sogar bester Absichten angesichts der Komplexität der Dinge ihre Handlungsfähigkeit eingebüßt hat und sich in PR-Terminen ergeht, steuern wir, so fürchte ich, auf einen heißen Herbst im Vorfeld eines kalten Winters zu. Diese gesellschaftliche Verrohung, die an den Rändern beginnt, ist brandgefährlich.

Einen schönen Dienstag mit nachdenklichen Einsprengseln 

wünscht