­Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser!
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Wann immer Boris Johnson die Hand hob, ging ein Raunen durch den Pressesaal. Nicht schon wieder! An welcher Story bastelte er jetzt wieder? Ob denn Brüssel die Absicht habe, die Londoner Doppeldecker zu verbieten? Ob die von der damaligen EG betriebene Liberalisierung des Postwesens dazu führe, dass das Porträt der Queen von britischen Briefmarke verschwinde? Ob denn der europäische Einheitssarg vor der Beschlussfassung stehe? Johnsons Brüsseler Weltbild war damals bereits genauso verschwurbelt wie seine Haarpracht. 1994 leitete er das Korrespondentenbüro des Daily Telegraph in Brüssel, ich das der Kleinen Zeitung. Wir kannten uns natürlich, das Brüsseler Pressecorps war noch sehr überschaubar, wir hatten aber wenig miteinander zu tun. An Österreich interessierte ihn nur, dass durch den gemeinsamen Beitritt mit den Finnen, den Schweden (und damals auch noch den Norwegern) die französische Vorherrschaft in den europäischen Institutionen ins Wanken geraten würde. Johnson spricht übrigens gutes Französisch, einen Teil seiner Schulzeit verbrachte er in Brüssel. 

Johnson war kein Querdenker, sondern ein Quertreiber, ein boulevardesker Kollege mit einer zutiefst politischen Mission, der in seiner Genialität erinnerungswürdige Schlagzeilen hervorzauberte, es mit den Fakten, die das eigentlich unterfüttern sollten, nicht so genau nahm, den schnellen Titel auf dem Altar der Wahrheit opferte. „Als Journalist war Johnson der Inbegriff von Fake-Journalismus“, erinnerte sich später der letzte Gouverneur von Hongkong und spätere EU-Kommissar Chris Patten.

Boris Johnson war längst über alle Berge, als bald nach der Jahrtausendwende Tanja Fajon in Brüssel auftauchte. Das slowenische Fernsehen hatte die junge, engagierte Journalistin in die EU-Metropole geschickt, 2004 sollte Slowenien der EU beitreten. Wir hatten viel miteinander zu tun, denn natürlich wollten die Kolleginnen und Kollegen der osteuropäischen Beitrittswerber auch unsere Einblicke über die sich dahinschleppenden Beitrittsverhandlungen kennen. Fajon erlebte ich als kämpferische Journalistin, die sich oft darüber ärgerte, warum in der EU alles so langsam geht. Einer ihrer Ansprechpartner war der damalige Pressesprecher von Außenministerin Ursula Plassnik, Alexander Schallenberg. Gestern sind sie sich in Laibach wieder begegnet - in neuen Rollen: Fajon wurde letzte Woche zur neuen slowenischen Außenministerin gekürt. Schallenberg war der erste Außenminister, der seiner neuen Amtskollegin in Laibach die Aufwartung machte. Fajon, die 2009 in die Politik wechselte, zunächst ins EU-Parlament und dann auf nationaler Ebene zur Parteichefin der Sozialdemokraten, will Slowenien auf europäischer Ebene aus dem Fahrwasser Ungarns und Polens herausführen und wieder stärker in der europäischen Mitte positionieren.

Caroline de Gruyter war lang Zeit politische Kolumnistin des NRC-Handelsblattes in Brüssel, ehe es die Niederländerin von 2013 bis 2017 nach Wien verschlug. Eine Bleibe fand meine ehemalige EU-Kollegin in Hietzing unweit von Schloss Schönbrunn, was sie unter anderem veranlasste, sich in die Historie der Habsburger zu vertiefen - allerdings nicht in das kitschbeladene royale Erbe. Als politische Journalistin, die sich lange in europäischen Zirkeln bewegt hatte, wollte sie wissen, was den einstigen Vielvölkerstaat und das heutige Vielvölkerprojekt, die EU, eint, ob sich überhaupt Parallelen auftun, ob die EU Lehren aus der Historie des Habsburgerreiches ziehen kann oder nicht.

Dieser Tage erschien im Böhlau-Verlag ihre mehr als 200 Seiten umfassende Spurensuche „Das Habsburgerreich  - Inspiration für Europa?“. Die Annäherung der Niederländerin an diese Thematik, die sich auf Gesprächen mit Historikern, Diplomaten, auch Habsburgern stützt, kulminiert überraschend in Grillparzers legendärem Diktum im „Bruderzwist im Hause Habsburg“: „Auf halbem Weg und zu halber Tat, mit halben Mitteln zauderhaft zu streben.“ Überraschend, weil diese Sequenz zumeist auf die heimische Innenpolitik übertragen wird. 

„Wenn mir in meinen Wiener Jahren eine wichtige Parallele zwischen dem Habsburgerreich und der Europäischen Union aufgefallen ist, dann ist es genau dieser Fluch, immer nur halbe Sache zu machen, immer halb fertig zu sein - ein Fluch, der auch irgendwie ein Segen ist.“ Und: „Kurz gesagt: Die Europäer machen im Grunde genommen das Gleiche wie die Habsburger: Fortfretten und Fortwurschteln.“ 

Eine spezielle Parallele, die sich Caroline de Gruyter bei ihrer Spurensuche offenbart hat: Die Ungarn waren in der Monarchie genauso machtbewusst, unsolidarisch, eigensinnig unterwegs, wie sie es heute in der EU sind. Ein Buch, das zum Widerspruch anregt und heute Abend in der Diplomatischen Akademie in Anwesenheit der Autorin vorgestellt wird.