In einem Museum im russischen Jekaterinburg nahm ein Mann kürzlich den gewichtigen Ausstellungsuntertitel – „Die Geburt einer neuen Kunst“ – so ernst, dass er den drei gesichtslosen Figuren eines bekannten Gemäldes der Avantgarde-Künstlerin Anna Leporskaja mit seinem Kugelschreiber Augen malte. Überdies handelte es sich um den Museumswärter, dessen erster Arbeitstag so auch zum letzten wurde, obschon man vermuten kann, dass er bloß gewissenhaft seinen eigenen Vorstellungen der großen Ordnung folgte.

Vielleicht sah er nach dem Rechten, und fand, was er sah, nicht recht, aber falsch, erschrak über die Leere in den Gesichtern, vielleicht wollte er die Kargen sehen lassen, vielleicht fehlte ihm nur der gespiegelte Blick, vielleicht vermisste er mit einem Mal, dass jemand auch ihn anschaute, und nicht übersah. Dass die Schönheit im Auge des Betrachters liegt, nahm er möglicherweise so genau, wie man es nur nehmen kann, und schritt zur Tat. Eventuell war es auch ein plötzliches Bedürfnis nach Teilnahme, eine spontane Selbstermächtigung, ein lautes „Ich bin dabei!“ zur Welt, oder eine betrunkene Wette, eine fixe Idee, ein merkwürdiger Totalausfall, bei dem sich das Hirn verknotet hat.

So oft wie es in der Kunst um Verständnis geht, so oft kann es auch zum Missverständnis kommen, denn die Exzentrik ist nicht dem Künstler vorbehalten, auch der Betrachter neigt mitunter zu einer Eigenwilligkeit, von der er nicht abzubringen ist. Aus Erfahrung weiß ich, das Publikum sieht, was es will, und kann mit seinem Blick noch jeden Hund in einen Wolf oder gar eine Metapher verwandeln, das Alles ins Nichts interpretieren, ein O als I lesen, da hat der Künstler nichts mitzureden, Gott sei Dank.

Auch in Spanien wurde die Verwandlung durch den Betrachter schon zu wörtlich genommen, als vor ein paar Jahren in einem kleinen Dorf eine alte, zutiefst gläubige Dame Jesus an der Kirchenwand mit einem eigenmächtigen Restaurationsversuch und Wasserfarben in einen Affen überführte. Der abblätternde Christus, aus dessen Wangen Putz fiel, hatte ihr leidgetan, und im Eifer der Rettung malte sie Gottes Sohn so viele Haare, dass man doch erst wieder an die Evolution glauben musste. Die Welt aber war begeistert, das unbekannte Kunstwerk erfuhr durch seine Zerstörung und sein neues Gesicht einen Ruhm, der dem stillen Original verwehrt blieb, denn fortan pilgerten Tausende Menschen in das verschlafene Dörfchen, um den konvertierten Jesus an der Wand zu bestaunen.

Ob es sich in diesem Fall um ein Verständnis oder ein Missverständnis, um Glauben oder Unglauben handelt, ist schwer zu sagen, jedenfalls aber um eine große Poesie der Metamorphose. Die Retterin hat die Frage „Ist das Kunst, oder kann das weg?“, die das Reinigungspersonal einst bei einer Beuys Ausstellung falsch beantwortete, und ein Werk einfach wegputzte, vielleicht mit einem 2-fachen Nein bedacht: Sie wollte bloß, dass Jesus bleibt, um jeden Preis.