Herbert Grönemeyer will aufrütteln. Diesmal nicht mit Musik, sondern nur durchs gesprochene Wort. In einem eindringlichen Video ruft der 65-jährige Deutsche seine Landsleute zur heutigen Stimmabgabe auf, denn er habe „Sorge, dass es uns durchrutscht, um wie viel elementarer diese Wahl im Vergleich zu den vorhergehenden ist“. Es sei eine hochdramatische, existenzielle Zeit für den Planeten, die einen Rhythmuswechsel und eine neue Dringlichkeit verlange, ein Auftauchen aus der Ohnmacht und keine politisch sedierende Selbstgefälligkeit, keine Saturiertheit, kein Weiterdümpeln oder – wursteln. „Demokratie heißt Einfluss nehmen, Verantwortung mittragen, vorausschauen, und die Belange in die eigenen Hände zu packen,“ erklärt der Edelbarde und beendet seinen Appell nachdrücklich mit: „Gute Wahl!“

Bei aller Begeisterung für den engagierten Wortakrobaten, bleibt doch zu befürchten, dass Grönemeyers Aufruf heute nicht verfängt. Landauf, landab befindet sich die Wahlbeteiligung im Sinkflug, kleine zwischenzeitliche Höhengewinne einmal ausgenommen. Offenkundig ist es einer satten Bevölkerung nicht mehr vermittelbar, dass es bei Wahlen um Wichtiges geht. Die Parteien scheuen die Auseinandersetzung mit Prinzipien, man fokussiert lieber auf das Herzeigen von Spitzenkandidaten, schleppt sich wie in Deutschland, Oberösterreich und Graz durch müde Wahl- oder Schaukämpfe.

Fast drei Jahrzehnte ist es nun her, dass die verfassungsrechtlich verankerte Wahlpflicht hierzulande abgeschafft wurde. Seitdem schwindet das Interesse am Urnengang kontinuierlich. In den Achtzigerjahren betrug die Wahlbeteiligung bei Nationalrats- und Landtagswahlen noch mehr als 90 Prozent, 2012 lag sie in den Grazer Gemeinderatswahlen bei schlappen 55 Prozent, 2017 mit 57 Prozent kaum höher - durchaus möglich, dass der herrliche Altweibersommer auch heute wieder mehr Stimmberechtigte zum Ausflug als in die Wahlkabine treibt.  

Unsere Großeltern und Altvorderen, die von Kriegen und Hitler-Diktatur gezeichnet waren, fassten die Möglichkeit, per Stimmzettel die Zukunft des Landes mitentscheiden zu können, einst als staatsbürgerliche Verpflichtung auf. Dazu kleideten sie sich in feinsten Sonntagszwirn und schritten feierlich zum Wahllokal – ihr augenscheinliches Bekenntnis zur wieder errungenen Demokratie.

Fragt sich, ob die Demokratie heutzutage überhaupt noch sichtbar gemacht werden kann? Die Landsgemeinde im schweizerischen Appenzell, wo sich alle Bürger des Kantons auf einem Platz im Freien zur Abstimmung versammeln, verbleibt wohl als romantisches Ideal der direkten Demokratie. Auch die jüngste Entwicklung lässt Skepsis aufkeimen: Der Trend geht zu Briefwahlen und wahrscheinlich bald zur Abstimmung im Internet. Das ist fortschrittlich und viel bequemer, aber entspricht es wirklich noch dem Grundgedanken der Demokratie? Deren Wesen bedingt eigentlich, für alle klar und ersichtlich zu machen, dass die Macht im Staat vom Volk ausgeht. . .

Ungeachtet des Wetters und der Partizipation, werden wir den heutigen Superwahltag auf unseren digitalen Plattformen jedenfalls vollinhaltlich würdigen: Um 9 Uhr startet Kollege Michael Kloiber den Live-Marathon, der alle aktuellen Ereignisse in Deutschland, Oberösterreich und Graz bündelt und um 15.45 in einer mehrstündigen Wahlsendung gipfeln wird. Innenpolitik-Chefin Veronika Dolna ist uns aus Linz zugeschaltet, um ab 16 Uhr die oberösterreichische Wahlentscheidung zu kommentieren. Rund eine Stunde später wechseln wir zu den Spitzenkandidaten ins Grazer Rathaus, Politik-Experte Peter Plaikner und Ressortchef Bernd Hecke werden die ersten Ergebnisse der steirischen Landeshauptstadt analysieren. Maria Schaunitzer aus unserer Außenpolitik und Berlin-Korrespondent Peter Riesbeck kommen gegen 18 Uhr zum Zug – ihnen obliegt es, alle Zahlen und Trends aus Deutschland einzuordnen. Bis in die Nacht hinein sammeln wir online die wichtigsten Stimmen und Reaktionen, bieten animierte Grafiken, Bilder, Videos, Kommentare und profunde Erklärstücke – und zum Frühstück liefern wir Ihnen dann wieder die geballte Kraft der gedruckten Sondernummer ins Haus.  

Einen spannenden Sonntag und viel Spaß beim Lesen, Schauen oder Wählen, wünscht Ihnen