Nach vielen Jahren wieder einmal in Brüssel. Es ist eigenartig, nach so langer Zeit in eine Stadt zurückzukehren, in der man gelebt hat. Vieles scheint einem vertraut und doch fremd. Am Abend spaziere ich durch die regennassen Straßen von Ixelles über die Avenue Louise und den Grand Sablon hinab zur gut bevölkerten Grand-Place, in deren Mitte ein großer mit lila glitzernden Lichterketten behängter Weihnachtsbaum steht.

Anders als in Wien und den anderen Städten, in die mich Studium und Arbeit kürzer oder länger verschlugen, habe ich keine Sekunde lang das Gefühl, irgendwo in diesem Häusermeer gäbe es ein Zuhause, das auf mich wartet. Es ist eine unsentimentale Rückkehr, so unsentimental wie der Abschied vor mehr als zehn Jahren.

Die fünf Jahre, die ich von 2007 bis 2012 als Korrespondent aus Brüssel und von anderen Brennpunkten Europas berichtete, waren eine aufregende Zeit voller Turbulenzen. Ich kann Ihnen einiges über das mühsame Zustandekommen des Vertrages von Lissabon erzählen, vieles über den Beginn des Flüchtlingselends auf Lampedusa und noch mehr über die nächtelangen, kräftezehrenden Marathongipfel, in denen die Europäer den große Rettungsschirm für Griechenland und die anderen Euro-Schuldenstaaten aufspannten.

Aber Brüssel selbst ist mir immer fremd geblieben, und wenn ich jetzt darüber nachdenke, warum das so ist, dann, glaube ich, hat das damit zu tun, dass die Stadt keine überzeugende Vorstellung von sich selbst hat, also von dem, was sie ist und was sie sein will. Brüssel bildet kein organisches Ganzes. Es ist nur die Schnittmenge mehrerer paralleler Welten, die nebeneinander existieren, ohne jemals enger in Berührung zu kommen – die flämische Welt neben der frankophonen und die zwei belgischen Lebenswirklichkeiten neben dem salafistischen Reich von Molenbeek und abseits von alledem die europäische Blase mit ihren ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten und Konventionen. 

Das Ergebnis ist eine Stadt, die den öffentlichen Raum verlottern lässt, als ob er nicht existierte, und auf diese Weise weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt.

Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Ich finde den Kontrast zwischen einem Belle Epoque-Palais, wie es in Paris nicht prächtiger gebaut sein könnte, und einem schäbigen Abbruchhaus gleich ums Eck durchaus reizvoll. Aber in keiner mir bekannten Hauptstadt sonst im reichen Westeuropa findet man so kaputte Gehsteige, so desolate Straßen voller Schlaglöcher und ein so plan- und gesichtsloses Sammelsurium an hässlicher Architektur wie in Brüssel. 

Die seelenlosen Bauten, die die europäischen Institutionen beherbergen, bilden da leider keine Ausnahme. Repräsentative Architektur ist stets auch das Abbild wenn schon nicht einer ganz konkreten Idee von Macht, so doch eines politischen Willens. Um im Europaviertel von Brüssel einen derartigen Anspruch auch nur im Ansatz zu erkennen, muss man schon ein ziemlich großer Enthusiast sein.

„Wir müssen damit beginnen, Brüssel als unser Zuhause zu betrachten“, sagt mit leuchtenden Augen einer der Mitwirkenden der Tagung, an der ich teilnehme. Vermutlich würde es genügen, wenn wir Europäer im Ringen um unsere Zukunft die EU endlich als existenzielle Notwendigkeit akzeptieren, gerade in Krisenzeiten wie diesen, geht mir durch den Kopf, als ich am Abend auf dem Weg zu unserer ehemaligen Nachbarin in der Metro sitze. 

Sie öffnet die Tür und ein warmer Lichtstrahl fällt durch den Spalt auf die Straße. Sie ist älter geworden und seit ein paar Jahren verwitwet. „Salut Stefan“, sagt sie, und es ist so, als ob wir uns erst gestern gesehen hätten. Es ist eine unerwartete Heimkehr. 

Es grüßt Sie herzlich Ihr