"Ich habe keine Uhr. Ich habe Zeit.“ Mit diesem Paradoxon konterkariert Karlheinz Geißler den von Stress, Hektik und Beschleunigung geprägten Zeitgeist. Geißler verzichtet in einem Leben ständiger Erreichbarkeit und Flexibilität aber auch auf ein Mobiltelefon, und er hat keinen Führerschein. Stattdessen schreibt er Bücher. Über die Zeit.

Warum beschäftigen Sie sich mit dem Thema Zeit?
Karlheinz Geißler: Ich frage mich eher, warum sich so wenige Menschen damit beschäftigen, denn die Zeit erlaubt ihnen doch das Leben. Die Zeit ist doch das, was einem am nächsten ist.

Hat es auch damit zu tun, dass Sie in jungen Jahren Kinderlähmung hatten und ein Jahr ans Bett gefesselt waren?
Ja, natürlich auch. Ich war fünf, als ich Kinderlähmung bekam. Als es wieder besser wurde, musste ich ein zweites Mal das Gehen lernen. Ich habe mit meiner Umwelt, die ja auf Beschleunigung und Tempo setzt, nicht Schritt halten können. Ich bin sozusagen dem Leben vorangehinkt. In unserer Gesellschaft ist es die Beschleunigung, die belohnt wird. So musste ich mir überlegen, wie ich von der Gesellschaft anders belohnt werden könnte, und wurde Hochschullehrer (lacht).

31 Jahre lang lehrte Karlheinz Geißler an der Universität der Bundeswehr in München. Er hat mehr als ein Dutzend Bücher über die beschleunigte Gesellschaft geschrieben. Und sich darin auch dem Nutzen von Pausen gewidmet.

Gerade die Zeit vor Weihnachten wird von vielen als stressigste Zeit des Jahres empfunden. Was tun?
Sie meinen den schrillen Anlauf der stillen Zeit. Man muss nicht auf Weihnachten warten, um stille Zeiten zu haben. Die kann man sich das ganze Jahr über machen. Ansonsten gilt in der Vorweihnachtszeit: Innenstädte meiden, dort geht es besonders laut und schnell zu.

Wieso ist der moderne Mensch so ein gehetztes Wesen? Ständig auf Trab, bloß nicht zur Ruhe kommen, das Essen nur noch to go, immer erreichbar.
Weil wir Zeit in Geld verrechnen. Das Problem ist, dass Geld kein Genug kennt. Man kann aus Geld immer noch mehr Geld machen. Und wo es kein Genug gibt, gibt es auch kein Runterschrauben in gesellschaftlicher Hinsicht. Individuell rate ich jedem, sich den Luxus des Verzichts zu leisten. Aber ein „Weniger ist mehr“ ist für die Wirtschaft eine Katastrophe, denn die muss wachsen, um weiterhin in dieser Gesellschaft Einfluss zu haben.

In den USA setzen Unternehmen immer mehr auf Mindfulness – Achtsamkeit. Google ist Vorreiter und bietet seinen Mitarbeitern Achtsamkeitskurse an, zum Innehalten, zum Luftholen, und letztlich zur Kreativitätssteigerung.

Schöne neue Arbeitswelt?
Die ganze Wellnessindustrie lebt von den anstrengenden Zeiten der Menschen. Wenn sich der Druck erhöht, in immer kürzerer Zeit schneller zu werden, erhöhen sich auch die Angebote des Abschaltens, Innehaltens, Ausruhens, es erhöht sich auch die Sehnsucht, langsamer zu sein. Aber man darf sich keinen Illusionen hingeben. Die Sehnsucht nach Langsamkeit wird auch wieder mit Geld verrechnet, damit wird wieder viel Geld verdient. Deshalb wird immer daran gearbeitet, dass die Sehnsucht erhalten bleibt.

Es gibt mittlerweile Dutzende Magazine, die das einfache, entschleunigte Leben predigen, mit seitenlangen Artikeln über „Marmelade einkochen“. Ist das der neue Zeitgeist?
Das ist die Reaktion auf die Beschleunigung. In extrem beschleunigten Zeiten steht auch das Predigen der Entschleunigung hoch im Kurs. Man kann an den unzähligen Wellnessangeboten erkennen, dass wir in besonders hektischen Zeiten leben. Da unser Wirtschaftssystem auf das Zeit-ist-Geld-System setzt, kommt man dem als Einzelner auch nicht aus.

Es gibt schon Apps, die stundenweise das Smartphone blockieren, damit man dieser ständigen Erreichbarkeit entkommt. Ist das mehr als ein Geschäftsmodell?
Natürlich will man damit vor allem Geld verdienen. Und es ist ja auch eine seltsame Angelegenheit, dass man ein Produkt entwickelt, vor dem man sich dann schützen muss.

Man müsse sich auch gegen den Pünktlichkeitsterror schützen, sagt Geißler. Er trage keine, er ertrage sie. Weil die Uhr der Zeit die Qualität nehme.

Zeitforscher Karlheinz Geißler: "In extrem beschleunigten Zeiten steht auch das Predigen der Entschleunigung hoch im Kurs."
Zeitforscher Karlheinz Geißler: "In extrem beschleunigten Zeiten steht auch das Predigen der Entschleunigung hoch im Kurs." © (c) Haas, Robert / SZ-Photo / picturedesk.com (Haas, Robert)

Obwohl wir heutzutage viel mehr Zeit zur freien Gestaltung haben als alle Generationen zuvor, klagt fast jeder über Stress und Krankheiten wie Burnout steigen. Was ist da los?
Die seelischen Krankheiten sind ein Zeichen dafür, dass der Mensch sich noch nicht an die heutigen Geschwindigkeiten angepasst hat. Die Arbeitszeit ist in dem Sinn auch nicht weniger geworden: Wir machen nur mehr in der gleichen Zeit oder in weniger Zeit. Aber wir machen definitiv mehr. Nur die Länge der Arbeitszeit ist weniger geworden. Und Burnout ist doch nur ein Signal, dass der Mensch diese Verdichtung nicht mehr aushält. Der Mensch verliert sich selbst und das Gefühl dafür, wann es genug ist.

Leben wir in einer Ära, in der die ganze Zeit Rushhour herrscht?
Ich plädiere schon seit Langem dafür, dass der Ruhestand über die Lebenszeit aufgeteilt wird. Drei Jahre arbeiten, und dann eine Auszeit. Kinder großziehen, Eltern pflegen – all das ginge so viel leichter. Bei der IG Metall in Deutschland gibt es die Möglichkeit, sich für mehr Freizeit oder mehr Geld zu entscheiden. Das ist gut.

Die österreichische Dichterin Ingeborg Bachmann veröffentlichte 1953 ihren Gedichtband „Die gestundete Zeit“. Da heißt es: „Es kommen härtere Tage. / Die auf Widerruf gestundete Zeit / Wird sichtbar am Horizont. / Bald musst du den Schuh schnüren.“ Jetzt frage ich Sie als Zeitforscher: Geht es letztlich nicht immer um die Angst vor der Endlichkeit?
Das auch, aber vor allem geht es um diese gestundete Zeit, mit der wir nicht zurechtkommen. Dass wir die Zeit in Stunden verrechnen und nicht ohne Messen und Verrechnung auf uns zukommen lassen. Die schönsten Zeiten sind doch immer jene, die nicht gezählt werden. Und das sind doch die Zeiten, die zählen.

Welche Zeiten sind das?
Die Zeiten, mit Kindern zu spielen. Die Zeiten der Liebe. Die Zeiten der Freundschaft. Da schaut doch niemand auf die Uhr.

Zeit und Ewigkeit – sind das zwei Paar Schuhe?
Die Ewigkeit nennen wir die Phase des Zeiterlebens, wo es keine Zeit gibt. Zeit und Ewigkeit bedingen sich. Zeitlosigkeit nennen wir Ewigkeit, wenn man so will.

Haben Sie noch einen Rat, wie wir Ruhe in Zeiten der Rastlosigkeit finden?
Versuchen Sie, möglichst weit weg von Uhren zu kommen! Meiden Sie Innenstädte in der Vorweihnachtszeit! Und spielen Sie, so oft es geht, mit Kindern!