Kleider nein. Wenn sich Hosen an Oberschenkeln festsaugen wie Blutegel, Blusen so eng sitzen wie festgezurrte Rettungswesten kurz vor der Notwasserung und Röcke einem die Optik eines vakuumverpackten Schnitzels verleihen . . . Sie geschehen tagtäglich im Verborgenen heimischer Umkleidekabinen: die kleinen textilen Dramen. Jede Frau kennt es. Im Lieblingsgeschäft sitzt die 38 wie angegossen, im Nachbargeschäft muss man widerwillig zur 42 greifen. Kein Verlass mehr auf die gute alte Größe?

Die Antwort lautet Jein. Die erste Hürde auf dem Weg zur perfekten Passform besteht darin, dass Konfektionsgrößen teils noch auf einer Datengrundlage aus den 1960er-Jahren geschneidert werden, sich aber unsere Statur im Schnitt über die Jahrzehnte stark verändert hat. Fakt ist: Wir schießen in die Höhe und gehen in die Breite.

Vor vier Jahren nahmen die Hohenstein Institute im Rahmen des Projekts "Size Germany" bei 13.000 Frauen, Männern und Kindern Maß. Hundert Textilunternehmen beteiligten sich - nicht ganz uneigennützig - an der Finanzierung, schließlich möchte man ja nicht an der Kundschaft vorbeischneidern.

Und trotzdem tun es die Modeketten, zum Teil sogar ganz gezielt: Wie zum Beispiel die US-Marke Abercrombie & Fitch, die keine Übergrößen für Mädchen im Sortiment führt, für Burschen aber sehr wohl. Chef Mike Jeffries verkündete in einem Interview: "Wir wollen die coolen Kids. Sind wir ausgrenzend? Absolut!" Gerade Firmen, die sich gerne an den Jungen und Schlanken ausführen lassen, schneidern sich so quasi ihre Kundschaft zurecht. Sogar bei Marken, die sich beim Schnitt ihrer Jeans mit Kurvenfreundlichkeit brüsten, endet das Größenspektrum nicht selten mit einer Taillenweite 30. Das entspricht einer Hosengröße 38/40, dabei trägt die deutsche Durchschnittsfrau zwei Nummern größer. "Schließlich ist es Teil eines Markenprofils, die Outfits für eine bestimmte Zielgruppe zu gestalten", bestätigt Thomas Rasch, Hauptgeschäftsführer des deutschen Fashion-Modeverbands.

Wo hier der Gürtel enger geschnallt wird, geben andere Hersteller Speckröllchen an Hüften und Seele mehr Spielraum: "Da sich die Proportionen im Laufe des Lebens ändern, muss die Kleidung einer 60-jährigen Frau zwangsläufig anders gestaltet sein als die einer 18-jährigen, und das trotz gleicher Konfektionsgröße", räumt Stephanie Müller, Expertin für Passformprüfungen an den Hohenstein Instituten, ein.

Schmeicheln und schummeln

Logisch, aber mitunter wächst sich dieses Anpassen zum Etikettenschwindel aus: Mit komfortablem Schnitt und dehnbarem Material umgarnt man gerade die kaufkräftige Zielgruppe 40+ mit sogenannten Schummelgrößen, wissen Brancheninsider zu berichten. Beim "Vanity Sizing" tarnt sich etwa eine Größe 40/42 als 38. Eine vorteilhaft ausgeleuchtete Umkleidekabine, ein geschickt platzierter Spiegel und das plötzliche Abspecken steigern das Wohlbefinden der Kundin und animieren sie schließlich zum Kauf.

Internationale Modeketten machen das Konfektions-Wirrwarr schließlich perfekt: Nicht nur unterscheiden sich die durchschnittliche Amerikanerin und die Norm-Italienerin in Statur und Proportion, auch die Größentabellen der wichtigsten Modeländer differieren: Eine 38 im deutschsprachigen Raum ist in Großbritannien eine 12 und in Frankreich eine 40. Und während EU-weit sogar die Krümmung der Gurke standardisiert wurde, verhallte die Norm EN 13402 zur Vereinheitlichung der Kleidergrößen von den Modemetropolen ungehört.

Der Größendschungel verdichtet sich besonders in großen Online-Kaufhäusern, die Kleidung aus aller Welt führen. Diesen Urwald zu lichten, versucht der 1500 Marken starke Riese Zalando, indem jedes der 150.000 Produkte vermessen wird, bevor es im Shop erscheint. "Weicht ein Stück von den Normtabellen ab, versehen wir es mit der Empfehlung, es eine Nummer größer oder kleiner zu kaufen", sagt Kristin Dolgner von Zalando. Trotzdem wird knapp die Hälfte aller Bestellungen zurückgeschickt, was aber nicht nur auf einen Mangel an Passform, sondern auf ein Mehr an Auswahl zurückzuführen sei.

Wenn dann aus der 38 im Kopf am Ende doch eine 42 auf der Hüfte geworden ist, sollte man aber nicht aus der hautengen Jeans fahren: Sie sind nicht alleine im Textil-Exil, wir alle zappeln am Kleiderhaken der Modeindustrie.