Dass hinter allen unerfreulichen, tragischen Dingen auch eine schöne Erinnerung, eine andere Version des Schlagworts, eine liebenswerte Assoziation liegen kann, daran denke ich stets, wenn ich in der Zeitung über Länder lese, die sich heute in prekären Lagen befinden, die ich vor Jahren aber gerne bereist habe. Dieser Tage begegnet mir ebenjenes Paradox in der Berichterstattung über den Russland-Ukraine-Konflikt, der droht sich in das schlechteste seiner selbst, in einen Krieg zu verwandeln.
Mit Sorge folge ich den Entwicklungen, und immer steigen mir hinter den alarmierten Artikeln Reisebilder, eine konkrete Entsprechung von Orten, Gerüchen und Menschen, vor die Augen und ins Herz. Für die Recherche meines letzten Romans fuhr ich mit meinem Begleiter von Graz bis nach Kasachstan, um den Entfernungen der Welt, dem vergangenen großen Krieg und seinen Hinterlassenschaften im Jetzt hinterher zu spüren, und begann den gigantischen Roadtrip, das fahrende Abenteuer mit einem Umweg über die Ukraine.

Umwege bringen einen manches Mal zu den Zielen, von denen man bloß noch nichts wusste, predigt jeder Reisende, und wer unterwegs ist, ist ja nirgends je falsch. So war es auch, ich fühlte mich richtig dort, neugierig mit großen Augen, willkommen, und die Veranstalter der Österreich-Tage, die mich spontan eingeladen hatten, waren von herzerfrischendster Gastlichkeit.

Das Land schien mal karg, mal übervoll, mit so vielen Kirchen wie Häusern, und die ukrainischen Straßen waren so schlecht und voller Schlaglöcher, dass die Menschen in den Gegenden Galiziens lachend sagten, wer geradeaus fuhr, müsse betrunken sein. Es war ein sehr kalter, durchdringender Frühling, der diese Reise rahmte, unaufhörlich sah man den eigenen Atem und fror bis in die Fingerspitzen. Aber ich mochte die langen Reihen schief stehender Strommasten, die hölzernen Gotteshäuser, in deren Dachstühlen schon die Vögel nisteten, die dichten Wälder, die auch so viel Schmerz der Vergangenheit bargen.

Der Wodka – Horilka in der Landessprache – und der Borschtsch waren gut und immer gerade zu viel genug und mir gefiel dieser Flecken Erde, den ich nur aus alten Büchern kannte, und der den Schriftstellern Joseph Roth und Bruno Schulz Heimat gewesen war. In der kleinen Stadt Drohobytsch stand ich an jener Stelle auf der Straße, wo Schulz 1942 von der SS erschossen wurde, und konnte nicht umhin, den Tätern nicht nur die kollektive, sinnlose Grausamkeit nicht zu verzeihen, aber auch die literarische Verhinderung weiterer Werke, den Tod des Autors. Ich habe kürzlich wieder die beiden Bücher aus dem Regal hervorgeholt, die einsam bleiben mussten, weil mit dem Leben auch die Buchstaben und Geschichten genommen wurden, und versuchte mir zu vorzustellen, welche geschriebene Welt wohl auf „Die Zimtläden“ und „Das Sanatorium zur Sanduhr“ gefolgt wäre. Ohne Krieg.