Ein Treffen ist auch in Zeiten größter Krisen fix, wirkt wie ein Anker der Sicherheit im Ozean grassierender Unsicherheiten. Zwei Mal an jedem Börsentag, um halb elf Uhr vormittags und Punkt drei Uhr am Nachmittag – so regelmäßig wie der Sonnenauf- und -untergang –, schließt sich eine exklusive Runde in London kurz, um den internationalen Referenzwert für Goldgeschäfte zu bestimmen.

Das „London Gold Fixing“ ist der wichtigste Termin für den globalen Edelmetallmarkt. Und das seit über hundert Jahren. Am 12. September 1919 wurde der Preis erstmals festgelegt. Damals noch von einem ausgewählten Kreis von fünf Vertretern der größten Banken, die sich im Herzen der Londoner City, in den holzgetäfelten Geschäftsräumen der Privatbank Rothschild & Sons an der St Swithin’s Lane, trafen, um nach den Regeln einer Auktion aus Angebot und Nachfrage am Markt auf polierten Tischen unter Ölgemälden einen Preis auszuverhandeln.

Schlechte Zeiten, guter Kurs

Das Prinzip ist bis heute dasselbe, nur Akteure, Ort und Technik haben sich geändert. Bis 1968 wurde der Goldpreis in Pfund Sterling notiert, seit 1968 in US-Dollar. Rothschild zog sich 2004 aus dem Goldhandel zurück, die anderen vier Gründungsmitglieder des Fixings wurden in den Neunzigerjahren von Großbanken übernommen oder verkauften ihre Sitze. Im März 2015 wurde der London Gold Fix schließlich durch den LBMA-Goldpreis (London Bullion Market Association Gold Price) ersetzt, und statt eines physischen Treffens läuft die Kurssuche zwischen Kauf- und Verkaufsgeboten heute über eine elektronische Plattform.

Neben dem Prozedere haben sich auch die Hoffnungen und Befürchtungen konserviert, die mit diesem Ritus der Weltwirtschaft verbunden sind.

Der Preis für eine Feinunze des Edelmetalls, den Investoren, Banken und Minengesellschaften zur Bewertung ihrer Bestände und Münzhändler und Schmuckhersteller für ihre Transaktionen brauchen, gilt als eine Art Krisenbarometer. Sind die Verhältnisse stabil, bleibt er moderat. Herrscht Furcht vor Vermögensverlusten oder schwindet das Vertrauen in Währungen, treiben ihn verängstigte Anleger zu drastischen Ausschlägen. Schlechte Zeiten für die Wirtschaft sind gute Zeiten für das Gold. So wie derzeit. So belief sich das weltweite Handelsvolumen von Gold im März 2020 laut World Gold Council auf durchschnittlich 236 Milliarden US-Dollar pro Tag – ein Anstieg von 61 Prozent im Jahresvergleich.
Rational ist das alles nicht, vielmehr sind es die emotionsgetriebenen Insignien einer Wertanlage.

Denn ja, Gold wird gehandelt, getauscht, umgeschmolzen, verbaut, aber de facto nicht verbraucht. Es ist immer da – wenn auch nur in begrenzten Mengen. Und es wird knapp bleiben, weil der Aufwand, mit dem es in Lateinamerika, Indonesien, China, Russland, Zentralafrika und Australien unter Einsatz hochgiftiger Chemikalien aus der Erde gegraben, geschürft und gelöst wird, enorm ist. Wobei vor allem die Minen Afrikas und Asiens auch Schauplätze des Elends sind, Sinnbilder für die Ausbeutung der Natur mit allen ihren sozialen Ungerechtigkeiten bis hin zu Kriegen. Aber die Gier nach Reichtum verdrängt die Not.

Stillgelegte Minen wegen Corona

Der Rest ist Psychologie. Vor allem die Psychologie der Angst. Und so sind es nicht nur professionelle Investoren und Anleger, die den Kurs nach oben treiben. Auch einfache Sparer gieren nach Goldmünzen und -barren. Hier trifft der Hunger nach Sicherheit auf alltägliche Unsicherheiten der Corona-Beschränkungen. Denn auch am Goldmarkt spürt man den weltweiten wirtschaftlichen Shutdown: Minen wurden stillgelegt, globale Lieferketten unterbrochen, die Produktion in Raffinerien zurückgefahren. Die Folge sind zum Teil lange Wartezeiten. „Durch die bestehenden Pandemie-Einschränkungen und die hohe Nachfrage kann es zu Verzögerungen bei der Auslieferung kommen“, heißt es bei Ögussa, einem heimischen Metallscheideunternehmen und Hersteller von Goldbarren.

7200 davon lagern, fein säuberlich in 144 Metallregale geschlichtet, in einem 120 Quadratmeter großen Raum tief unter der Nationalbankzentrale am Wiener Otto-Wagner-Platz: der Goldschatz der Republik – zumindest die Hälfte davon. 90 Tonnen davon wurden erst zwischen 2016 und 2018 von London zurückgeholt. Per Flugzeug. Maximal fünf Tonnen pro Lieferung. 140 Tonnen bleiben weiterhin im Ausland, in Großbritannien und der Schweiz. Sicher ist sicher. Gold ist eine Art staatliche Lebensversicherung. Für den Einzelnen bleibt es ein ewiges Glücksversprechen. Und nur selten war es so wertvoll wie heute.

Kursrallye nach 9/11

Der Aufstieg des Goldes begann nach dem 11. September 2001. Am Tag vor den Anschlägen auf das World Trade Center kostete eine Unze Gold rund 270 US-Dollar. Zehn Jahre später erreichte der Kurs mit knapp 1920 Dollar sein bisheriges Rekordniveau. Und heute? Mit Freitag lag der Wert bei 1717 Dollar (1584 Euro) – ein Plus von 38 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert.