Alles Maske! Der öffentliche Raum wird sich in den kommenden Wochen auf politisches Geheiß hin also anonymisieren.
Das bislang Offensichtliche bekommt das Aroma des Versteckten. Kein flüchtiges Lächeln, kein grantiges Zähnefletschen, keine aufeinandergepressten Lippen, kein genüssliches Gähnen, kein kindisches Zungezeigen wird mehr sichtbar sein. Alles versteckt hinter einem kleinen Stofffetzerl oder mehrlagigen Papierfleckerl: Hygiene-Rüstungen gegen einen unsichtbaren Feind namens Corona.
Der Mundschutz wird zu einem modischen Accessoire werden, die Gesichtsmaske zum stylishen Must-have. Alltagsbegegnungen drängt ein derartiger Dresscode in eine Kulisse, die an sterile Operationssäle, staubige Bergwerksstollen, frostige Skiliftfahrten oder plumpe Bankraubszenen erinnert. Die verordnete Vermummung, die das Gesicht in eine sichtbare und eine unsichtbare Hälfte teilt, wird zwar den Augen (noch) mehr Bedeutung zuschanzen, aber auch unsere Gestik verändern. Der Weg zum Nasebohren: verbarrikadiert. Das nachdenkliche Übers-Kinn-Streichen: geht nicht mehr.
Wohin das führt? Masken sind ja abseits ihrer Schutzfunktion ein Transportmittel Richtung Ausgang aus dem normalen Leben. Für einen Moment jemand anderer sein. Raus aus dem eigenen Ich, rein in eine fremde Rolle schlüpfen: in die Figur des anderen Geschlechts, eines Gottes, des Teufels oder Clowns, eines Tieres vielleicht. Alles ist möglich. Ich bin es, aber zugleich bin ich es nicht. Tarnen und täuschen, verdrängen oder verdeutlichen, verschrecken oder vergnügen – eine Maske kann alles.
Eine Maske ist der Inbegriff der Uneigentlichkeit, all dessen, was wir im Ernst des Lebens nicht sind und nicht sein können, hat der Journalist Josef Tutsch die Funktion derartiger Verkleidungen einmal beschrieben. In unserer modernen Kultur sieht er die Masken auf zwei Reservate zurückgedrängt, Theater, Film und Zirkus einerseits, Karneval und Kostümfeste andererseits. Dazu kommt noch die Verwendung als Schutzutensil – aktuell gegen ein Virus, generell, um sich beim Sport oder der Arbeit nicht zu verletzen oder um bewusst unerkannt zu bleiben. Da stehen sich bei Demonstrationen dann vermummte Protestierer und sturmhaubenuniformierte Polizisten gegenüber. Ein Duell der Maskierten. Ein Versteckspiel im Schutz der übergezogenen Anonymität, die Minimalform einer Deckung. Bei derartigen Konfrontationen hat meist der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau recht: „Die Maske weicht, es bleibt der Mensch. Was heldisch war, sinkt hin.“
Auch im Theater gibt es diesen Augenblick der Ernüchterung, wenn die Masken fallen. Diese Offenbarung passiert als dramaturgisches Instrument auf offener Bühne oder am Ende einer Vorstellung, unsichtbar fürs Publikum, in den Garderoben. Immer ist sie mit einer Rückkehr in die Gewöhnlichkeit verbunden. Jetzt soll das ins Gegenteil verkehrt werden: „Die Masken hoch!“ als neuer Refrain einer virusinfizierten Normalität.
Aber auch das passt. Denn schon immer kamen Masken an den Wendepunkten des Lebens zum Einsatz. Bei Hochzeiten, Geburten, Initiationsriten, Urteilsvollstreckungen, Krankheiten, dem Tod. Glaubt man Gegenwartsinterpreten, befinden wir uns als Gesellschaft gerade an so einer Kreuzung, Abbiegemöglichkeit Richtung mehr Vernunft und ein Ende des Maskenkults inklusive. Auch das findet seine Entsprechung in der Kulturgeschichte. Denn bei manchen Ritualen wird die Maske am Ende zerstört, weil deren Kraft verbraucht ist. Bei anderen Brauchtumsinszenierungen werden die Maske, Larve oder Kostüme weitervererbt und bei jedem Zyklus neu mit Energie aufgeladen.
Derartige Traditionen und auch die Geschichte der Masken im Theater haben jahrtausendealte Wurzeln in religiösen Riten und heidnischen Ritualen. Die ältesten Maskendarstellungen sind mehr als 10.000 Jahre alt.
Auch der Geschichte des Alten Ägypten gibt eine Maske ihr Gesicht: Die Totenmaske des Pharao Tutanchamun aus dem 14. vorchristlichen Jahrhundert ist weltberühmt und veranschaulicht eine weitere Bedeutung von Masken – nämlich die der Konservierung und Verehrung und Erinnerung über den Tod hinaus. Im antiken Griechenland fanden sie dann auf die Bühne, waren wesentliche Requisiten bei Tänzen, Tragödien und Komödien. Masken halfen dank überzeichneter Charakterzüge, karikierter Gesichtsmerkmale, teils übermenschlicher Größe oder am Kopf getragener Maskenstatuen, dass Zuschauer bis in die letzten Reihen das Gezeigte sehen und verstehen konnten.
Später verschwanden sie zumindest in Europa von den Theaterbühnen, nicht aber aus dem öffentlichen Leben. Im 18. Jahrhundert tauchen sie als Schandmasken auf, die Verurteilte in der Öffentlichkeit als Strafe tragen mussten und die auf ihr Fehlverhalten hinwiesen. Dieser persönliche Gesichtsverlust gehört in Asien bis heute zur größten Schmach, die man erleben kann. Dass gerade dort heute das Tragen von Gesichtsmasken als Alltagsschutz längst Usus ist, wirkt da einigermaßen kurios. In Europa hatten Masken in anderem Zusammenhang schon in der Renaissance Hochkonjunktur: Maskenbälle lagen schwer im Trend, weil sie den Trägern ungewohnte bis ungezügelte und jedenfalls unerkannt Freiheiten ließen. Später wanderten die Maskenparaden von den Höfen auf die Straßen. Venedig gilt seit dem 18. Jahrhundert als Metropole der Maskierung.
Akademische Diskussionen von einst über den Unterschied zwischen dem natürlichen und künstlichen Gesicht, der Maske als Grenze zwischen sichtbarer Oberfläche und unsichtbarem Inneren, finden heute ihre Fortsetzung in Debatten über die dem Schönheitsideal einer „facialen Gesellschaft“ geschuldeten Schmink-Maskeraden und den Gesichtsfassaden in virtuellen Welten. Was ist noch echt, wenn alles Maske ist? Schutzmaskengebote hin, Vermummungsverbote her. Am Ende dürfte Friedrich Nietzsche richtig gelegen sein: „Die beste Maske, die wir tragen, ist unser eigenes Gesicht.“
Klaus Höfler