"Ich habe im Pariser Mai 1968 gelernt: Eine depressive, leblose, unterwürfig schweigende oder herumjammernde Gesellschaft kann von einem Augenblick auf den anderen erwachen und sagen: So, jetzt ist Schluss! Und dann gerät alles aus den Fugen“, erinnert sich der Schriftsteller Hervé Hamon, ein Zeitzeuge des Pariser Mai 1968.

Alles begann damit, dass die Studenten für ihre ehrwürdige, angestaubte Universität Sorbonne eine Hochschulreform verlangten. An der Uni-Dependance in Nanterre starteten sie ihren Widerstand. Ein aufmüpfiger, rotschopfiger Deutscher spielte dabei eine Schlüsselrolle: Daniel Cohn-Bendit. Sohn einer deutsch-jüdischen Mutter und eines französischen Vaters, aufgewachsen in Frankreich und Deutschland, deutsche Staatsangehörigkeit. „Und im Sommer 1968„von de Gaulle als ,deutscher Jude' aus Frankreich ausgewiesen“, erinnert sich Alice Schwarzer in einem „Emma“-Beitrag an Cohn-Bendit, „und die Kameraden von ,Daniel le Rouge' protestierten: ,Nous sommes tous des juifs allemands!' - Wir sind alle deutsche Juden.“ Der Zuspruch für die Studentenproteste war nirgends größer als in Frankreich. Deren Parolen „Seid Realisten, verlangt das Unmögliche!“ oder „Es ist verboten zu verbieten!“ wurden rasch unterstützt.

Bald ließen sich die Arbeiter von der Revolte anstecken. Die Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf. Sie forderten höhere Mindestlöhne, kürzere Arbeitszeiten, Mitbestimmung. Im Mai 1968 wurde in Frankreich etwas Wirklichkeit, was in anderen Ländern über die Probe nicht hinauskam: Studentischer Protest verband sich mit dem Aufbegehren der Arbeiter. Beide Gruppen waren sich in einem einig: „De Gaulle adieu!“, so skandierten sie lautstark.

In atemberaubender Geschwindigkeit war der Studentenprotest in den Barrikadenaufstand mit Hunderten Schwerverletzten gemündet, die Straßenschlacht in den Generalstreik und dieser in eine schwere Prüfung für das Regierungssystem von Präsident Charles de Gaulle und seinen Premier Georges Pompidou. Dass die in Frankreich nach dem Krieg einflussreiche Kommunistische Partei gegen die Proteste war, führte letztlich zu ihrem Niedergang.
„Die Wurzeln des Mai 68 reichen weiter zurück“, schreibt der Physiker Alain Geismar, neben Cohn-Bendit einer der Anführer der Studentenproteste, im „Spiegel“. Nach Streiks in den Kohlegruben Nordfrankreichs 1963 hatte Präsident Charles de Gaulle die Region unter militärische Kuratel gestellt. Die Kumpel hatten ihren Ausstand dennoch fortgesetzt.

1963 findet auch das Festival von „Salut les copains“ statt, „ein frühes französisches Woodstock“, erklärt Geismar, „bei dem sich bei amerikanischer Musik rund 100.000 Jugendliche aus dem Bürgertum und aus den Arbeitervorstädten verbrüdern“.

Daniel Cohn Bendit, genannt "Dany le Rouge"
Daniel Cohn Bendit, genannt "Dany le Rouge" © Paris Match via Getty Images (MELET Georges)

Nach den Jahren der Zerwürfnisse habe Frankreich 1968 nach innen geschaut, auf die Ungleichheiten und die gesellschaftlichen Verwerfungen. Im Winter 1967 streikten die Textilarbeiter in Lyon. „Als die Rezeptgebühr erhöht werden soll, bricht in Le Mans offener Aufruhr aus, der brutal niedergeschlagen wird, und während eines Tarifstreits in Caen bauen junge Metallarbeiter erstmals Barrikaden. Erst drei Jahre zuvor ist der blutige Algerienkrieg mit der Unabhängigkeit der französischen Kolonie beendet worden“, erörtert Geismar.

1968 sollte schließlich das Jahr werden, das Frankreich veränderte. Auf Initiative von Premier Georges Pompidou kam es zu Verhandlungen mit den Arbeitern, Ende Mai wurde das „Abkommen von Grenelle“ geschlossen, der Mindestlohn wurde um 35 Prozent erhöht, die Arbeitszeit verkürzt, es gab arbeitsrechtliche Verbesserungen. Ab diesem Zeitpunkt war die Revolte gebrochen. De Gaulle kündigte Neuwahlen an, Ende Juni wurde die konservative Regierungspartei überragend an der Macht bestätigt.

Was blieb von 1968? Eher linke Gruppen interpretieren den Mai 68 als überfälligen Bruch mit der autoritär und stark hierarchisch geprägten französischen Gesellschaftsordnung, für Konservative wurden Autoritäten wie der Staat durch die Revolte beschädigt. „Unbestritten ist, dass sich der französische Mai 1968 unmittelbar in einen Umbau der Parteienlandschaft, der politischen Kultur und des Wertegefüges“ Frankreichs einfügte, analysiert Kulturwissenschaftler Ingo Kolboom in einem Beitrag für die deutsche „Bundeszentrale für politische Bildung“.
Für Frankreichs aktuellen Präsidenten Emmanuel Macron, Jahrgang 1977, spielt das Jahr 1968 eine geringe Rolle. Er denke nicht in links oder rechts, wie es damals üblich gewesen sei, sagt er. Frankreichs ehemaliger Präsident Nicolas Sarkozy hatte seine ganze Präsidentschaftskampagne 2007 noch unter das Motto gestellt, er wolle „das Erbe vom Mai 68 liquidieren“.