Die Generation 1968 träumte von einem Leben ohne Gewalt. „Make love, not war“, war die Parole, aber man sah Gewalt nicht nur als militärische oder polizeistaatliche Machtausübung, sondern benannte auch die strukturelle Gewalt, die aus der Konstruktion einer kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Zwängen erwuchs. Die Theoretiker erklärten den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus, und manche jungen Menschen erhofften sich ganz neue gesellschaftliche Organisationsformen.

In Deutschland und abgeschwächt auch in Österreich lief diese Diskussion. Während aber in Österreich die SPÖ seit 1966 in Opposition war und es Bruno Kreisky gelang, viele der jungen Heißköpfe in sein Alternativprogramm zur Regierung einzubinden, indem er versprach, das „moderne Österreich“ zu bauen - immerhin blieben die Reduzierung der Wehrdienstzeit, die Hochschulreform und die Abschaffung des § 144, der strafrechtlichen Verfolgung des Schwangerschaftsabbruchs -, war die Situation in Deutschland ganz anders.

Willy Brandt (l) und Kurt Georg Kiesinger
Willy Brandt (l) und Kurt Georg Kiesinger © dpa (A0759 Wolfgang Weihs)

Dort war 1966 die bürgerliche Regierung unter Ludwig Erhard durch ein „konstruktives Misstrauensvotum“ gestürzt worden, und mit diesem Gegenangebot an Mehrheiten war eine Große Koalition zustande gekommen. Kurt Georg Kiesinger von der CDU war neuer Kanzler, Willy Brandt von der SPD sein Vizekanzler. Das war, gelinde gesagt, ein seltsames Gespann. Brandt war der populäre Oberbürgermeister von Berlin, eine Hoffnung der Linken, im Krieg Emigrant. Kiesinger war schon 1933 der NSDAP beigetreten und hatte Funktionen in der Propagandamaschinerie der Nazis erreicht. Beate Klarsfeld, eine engagierte deutsch-französische Journalistin und Aufklärerin von Naziverbrechen, ohrfeigte Kiesinger im November 1968 auf offener Bühne am Podium des CDU-Parteitages und rief: „Nazi, Nazi, Nazi!“

Die SPD war mit diesem Regierungspartner keine Option für junge kritische Linke. Zudem hatte die Regierung im Mai 1968 das eben beschlossene Grundgesetz der BRD um die Notstandsgesetze erweitert, die der Staatsmacht Handlungsvollmachten in Krisensituationen ermöglichten. Das war als Antwort auf den Mai in Paris zu sehen, wo de Gaulle ausgeflogen werden musste, weil Studierende und streikende Arbeiter die Straßen beherrschten. Kritiker befürchteten, dass das Notstandsgesetz eine Art Ermächtigungsgesetz sein könnte, mit dem 1933 die Nazis die parlamentarische Opposition ausgeschaltet hatten.
Da aber beide Großparteien hinter dem Gesetz standen, es also praktisch keine parlamentarische Opposition gab, verstärkte sich die seit der Bildung der Großen Koalition aktive Außerparlamentarische Opposition (APO). Sie sah den Staat zunehmend als Polizei- und Überwachungsstaat.

Schon ein knappes Jahr zuvor, am 2. Juni 1967, war bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin Benno Ohnesorg, ein Pazifist und Mitglied der evangelischen Studentengemeinde, erschossen worden. Die Hintergründe zu dieser Tat wurden erst Jahrzehnte später ausgeleuchtet. Aber die Stimmung heizte sich auf. In Berlin erklärten einige Medien Rudi Dutschke zum Volksfeind Nummer 1, und Populärmedien („Bild“, „Berliner Morgenpost“, „Bravo,“ „Eltern“, „Jasmin“ etc.) machten Stimmung gegen die langhaarigen Studierenden, die in der besonderen Situation Berlins als Agenten des Ostens angesehen wurden. Am 11. April 1968 schoss ein junger Hilfsarbeiter auf dem Kurfürstendamm auf Rudi Dutschke und verletzte ihn schwer. Er sollte an den Spätfolgen ein Jahrzehnt später sterben.

 Rudi Dutschke
Rudi Dutschke © dpa (A0722 Wilhelm Bertram)

In dieser komplexen Lage mit der geringen Hoffnung zur Durchsetzung politischer Forderungen bildeten sich in der Außerparlamentarischen Opposition zwei unterschiedliche Richtungen. Eine setzte auf den „langen Marsch durch die Institutionen“, auf eine Änderung der SPD von innen heraus. Ein anderer Flügel setzte auf Aktionen bis hin zur Gewalt. Schon im April 1968 wurden in zwei Frankfurter Kaufhäusern Brände gelegt, und eine Gruppe um Gudrun Ensslin und Andreas Baader erweiterte sich im Prozess um die Journalistin Ulrike Meinhof. Daraus erwuchs die „Rote Armee Fraktion“ (RAF), deren Aktionen und Attentate das politische Klima der Folgejahre bestimmten. Als Baader-Meinhof-Bande ging die Gruppe in die Geschichte der Bundesrepublik ein.

Ulrike Meinhof
Ulrike Meinhof © (c) AP (HO)

Es ging um Aufmerksamkeit, um die Hegemonie im politischen Diskurs. Das setzte eine Spirale der Gewalt in Gang, die letztlich zu 33 Morden führte, zu Banküberfällen, Geiselnahmen und Entführungen. Dramatischer Höhepunkt war die Entführung und Ermordung des Präsidenten der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, Hanns Martin Schleyer, am 18. Oktober 1977. Deutschland war endgültig in seinem Herbst der politischen Auseinandersetzung angekommen. Diese Entführung und Ermordung war die Rache der RAF für den Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis Stuttgart-Stammheim in einer Todesnacht, um die sich bis heute Verschwörungstheorien ranken.

Der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer
Der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer © dpa (A0009 dpa)

Künstler wie Gerhard Richter in seinen Bildern und Fotos oder Heinrich Böll in seinen Texten zeigten die Ambivalenz dieses Jahrzehnts. Die öffentliche Meinung hingegen war eindeutig. Die Gegensätze waren unüberbrückbar und konnten nur durch eine völlige Ausschaltung der RAF gelöst werden. Das ist schließlich gelungen, aber das Beispiel machte Schule. In Italien waren 1970 die „Brigate Rosse“, die Roten Brigaden, entstanden, die das Land einige Zeit in Atem halten sollten. Und selbst nach Österreich griff das Beispiel über. Am 8. November 1977 wurde der Industrielle Walter Michael Palmers entführt, 100 Stunden festgehalten und erst gegen die Zahlung eines Lösegelds von 31 Millionen Schilling freigelassen. Die Aktion blieb zum Glück unblutig. Aber der deutsche Terror fand international seine Nachahmer. Die Protestbewegung des Jahres 1968 hinterließ also nicht nur den „Summer of Love“, sondern auch für einige Jahre eine Geschichte der Gewalt.