Da kommt er um die Ecke geschossen: Klein, untersetzt, gezwirbelter Schnurrbart – die Hose immer einen Tick zu kurz über dem Gamaschenschuh. Sie mochte ihn nicht, aber was hätte sie tun sollen? Ihn umbringen? Ja, warum nicht?! Und so hat sie eines Tages den Beschluss gefasst und es durchgezogen. Sie hat ihn eiskalt sterben lassen.

Dass es um die Beziehung zwischen Agatha Christie und ihrer berühmtesten Romanfigur Hercule Poirot nie zum Besten stand, war kein Geheimnis. Und so ließ sie ihn nach 55-jähriger Berufslaufbahn 1975 über die Klinge springen. Die „New York Times“ brachte noch einen ganzseitigen Nachruf und das war es. Aber war es das? Nein, denn mit Poirot verhält es sich wie mit seiner Schöpferin selbst – irgendwo tauchen sie immer auf. In guter, alter Kriminalisten-Manier eben. So ganz selbstverständlich ist das jedoch nicht, auch wenn die „Queen of Crime“ mit beachtlichem Zahlenmaterial aufwarten kann: 66 Romane, 150 Kurzgeschichten und 19 Theaterstücke tragen ihren Namen. Ihre direkte Konkurrenz bei den Verkaufszahlen muss man auch nicht extra vorstellen – es sind die Bibel und Shakespeare. Mit zwei Milliarden verkauften Büchern ist Christie immer noch die meistverkaufte Autorin aller Zeiten. So schnell wird sich das auch nicht ändern, da müsste J. K. Rowling schon eine ganze Zaubererarmee mit „Harry Potter“-Potenzial auf den Markt werfen, um beim Ranking auch nur in Ansätzen einen Warnschuss abzugeben.

No Sex, just Crime

Noch erstaunlicher ist jedoch ihre hartnäckige Präsenz in Zeiten anhaltender Krimi-Hochkonjunktur – und das vier Jahrzehnte nach ihrem Todestag (am 12. Jänner 1976). Immerhin fehlen in ihrem Krimi-Süppchen Zutaten, die seit Jahren so etwas wie Krimi-Erfolgsgaranten und Erfolgsgranaten sind: meterhohe Schneewechten, Eiseskälte, noch kältere Ermittler mit Hang zur latenten Selbstzerstörung, das feinsäuberliche Sezieren menschlicher Abgründe. Nicht zu vergessen, die großzügige Abwesenheit von der wohl sichersten Nummer: Sex and Crime. Vielleicht ist es Nostalgie, vielleicht lässt sich der Mensch aber auch besonders gern von einem Krimi-Genre locken, für das Christie – neben „Sherlock Holmes“-Schöpfer Sir Arthur Conan Doyle – wie keine andere steht: „Whodunit“, die gesprochene Kurzfassung von „Who has done it?“, also „Wer hat es getan?“. Es ist die kammerspielartige Inszenierung eines Verbrechens, bei dem gleich mehrere Verdächtige ein handfestes Motiv hätten. Es folgt ein sich immer mehr verdichtender Tanz aus Fakten, Hypothesen und Anschuldigungen. Der Leser selbst spielt meist bis zum Schluss sehenden Auges Blindekuh. Die Erleuchtung erfolgt ganz ohne Zauber, Zinnober und Schießerei, sondern durch die hohe Kunst der Logik. Oder wie es Hercule Poirot mit Schnurrbartzwirbeln und

Augenzwinkern formulieren würde: „Lassen Sie die kleinen grauen Zellen arbeiten!“ Auch das kann ein Big Bang sein, selbst wenn die Spürnase wie Miss Marple, der zweiten Christie-Ikone, bereits auf die 70 zugeht.
Das Talent zum Schreiben hat sich bei der 1890 in Torquay geborenen Britin schon früh gezeigt. Als Christie elf Jahre alt war, veröffentlichte eine Lokalzeitung bereits eines ihrer Gedichte. Sie selbst sieht darin das Ergebnis einer ausgeprägten Familientradition: lesen, lesen, lesen. Ihre Werke schreibt sie zeit ihres Lebens de facto im Vorbeigehen: Es sind die Beiläufigkeiten des Alltags, die sie inspirieren. Ob in der Straßenbahn oder beim Einkaufen – Ideen, Personen, Namen, alles wird akribisch genau in kleinen Notizbüchern festgehalten. Weit über 100 davon existieren noch immer. Ihr Enkel Mathew Prichard wird später einmal über seine Großmutter sagen: „Sie war eine Person, die mehr zuhörte, als sie sagte und mehr sah, als sie selbst gesehen wurde.“

Tod auf dem Nil

Aber es ist nicht nur der Mikrokosmos des Regionalen, der sich in ihren Werken widerspiegelt. Christie war eine Weltreisende, brauchte diesen Makrokosmos als Ausgleich und Inspiration. Auch wenn sie mit ihrem ersten Mann, dem Piloten Archie Christie, von Australien bis Südafrika unterwegs war, so gehörte ihr Herz doch dem Orient. Schon in frühen Jugendjahren verbrachte sie mit ihrer Mutter drei Monate in Ägypten – zur Ballsaison. Bälle, Polo, Pyramiden, damals war Nizza unten durch, in Ägypten feierte es sich doch viel wärmer und bequemer. Kein Wort beschreibt diese elitäre Lebenswelt von damals besser als „mondän“. Christie hat diese Bilder in vielen ihrer Werke zu Papier gebracht, das wohl bekannteste ist der 1937 erschienene Poirot-Fall „Tod auf dem Nil“, 1978 von John Guillermin mit viel Eleganz und Grandezza unter anderem im legendären Old Cataract Hotel in Assuan verfilmt.

Auch der Orient-Express, luxuriöse Kulisse für „Mord im Orient-Express“, war ihr wohl vertraut: Zwei Mal (1928 und 1932) fuhr sie damit nach Istanbul. Von dort führten ihre Reisen ins syrische Aleppo, weiter nach Damaskus, Bagdad und Ur. Mindestens vier Monate im Jahr war sie mit ihrem zweiten Mann, dem um 14 Jahre jüngeren Archäologen Max Mallowan, bei Ausgrabungen im Nordirak und Syrien unterwegs.

Sie trug nicht nur wesentlich zur Finanzierung der Expeditionen bei, sondern war aktives Teil des Grabungsteams. Auch wenn sie den Humor dafür hatte, stammt übrigens folgendes, ihr vielfach zugeschriebenes, Zitat nicht von ihr: „Eine Frau, die mit einem Archäologen verheiratet ist, darf sich glücklich schätzen, denn je älter sie wird, desto interessanter wird sie für ihren Mann.“ Wobei Schönheit für Agatha Christie offenbar keinen allzu großen Wert hatte, denn die wichtigste Erkenntnis schrieb sie 1978 als Titel auf ihr allerletztes Buch: „Alter schützt vor Scharfsinn nicht“. Da ist was dran.