Raye kam kürzlich zur Preisverleihung der 44. Brit Awards mit rekordverdächtigen sieben Nominierungen sowie einem bereits bestätigten Sieg als beste Songwriterin. Am Ende erhielt die Südlondonerin sechs Auszeichnungen, darunter die für die Künstlerin des Jahres und das Album des Jahres (“My 21st Century Blues”). Sie brach damit alle bisherigen Rekorde bei den wichtigsten britischen Musikpreisen, ließ Blur, Adele und Harry Styles hinter sich und ist nun auf dem besten Weg, weltberühmt zu werden.

Gibt es Druck?  “Nicht wirklich. Aber als ich hörte, für wie viele Preise ich nominiert war, war ich sprachlos. Es ist überwältigend. Und ich hatte letztendlich gehofft, einen Preis zu bekommen, vielleicht auch zwei, weil ich wusste, dass ich live auftreten durfte”, sagt Raye, die mit bürgerlichem Namen Rachel Agatha Keen heißt.

Steiniger Weg

Rayes Weg zu den Brit Awards ist eine der herzergreifendsten Geschichten der jüngeren Popgeschichte. Als ehemalige Schülerin der Brit School (wie Adele, Winehouse und Leona Lewis) wurde sie im Alter von 17 Jahren von einem großen Label unter Vertrag genommen und wurde eine erfolgreiche Songschreiberin für andere Künstler, darunter Beyoncé, John Legend, Ellie Goulding und Little Mix. Sie war Co-Autorin von Beyoncés Song „Bigger” und hatte zig Hits, bei denen sie als Gastsängerin mitwirkte, doch ihr Label weigerte sich, ein Album von ihr zu veröffentlichen.

Im Jahr 2021, nach sieben frustrierenden Jahren, erklärte sie unter Tränen auf Twitter ihre Situation: „Ich habe Alben über Alben von Musik, die in Ordnern sitzen und verstauben, Songs, die ich jetzt an A-Listen-Künstler verschenke, weil ich immer noch auf die Bestätigung warte, dass ich gut genug bin, um selbst ein Album herauszubringen. Ich habe alles getan, was sie von mir verlangt haben: Ich habe das Genre gewechselt, ich habe sieben Tage die Woche gearbeitet ... Jetzt habe ich genug davon, ein höflicher Popstar zu sein. Ich will mein Album machen.“ Die Tweets lösten einen kleinen Sturm in der Musikindustrie aus, als Künstler wie MNEK, Shura und Ray BLK ähnliche Sorgen teilten. Schließlich erlaubte ihr Label Polydor, das auch Billie Eilish und Abba unterr Vertrag hat, zu gehen.

Erstes eigenes Album

„My 21st Century Blues” wurde mit Rayes eigenem Geld produziert. Ihre ghanaisch-schweizerische Mutter, die im Bereich der psychischen Gesundheit arbeitete, und ihr Vater aus Yorkshire, der für die Versicherungsgesellschaft Norwich Union tätig war, kündigten ihre Jobs, um sie zu managen. „Mit ihren beiden früheren Jobs sind sie ideal für die Musikindustrie“, sagt sie. „Meine Mutter hat in 30 Jahren im Bereich der psychischen Gesundheit alles gesehen. Mein Vater ist in Unternehmen gegangen, hat sich über sie informiert und ihnen Ziele gesetzt. Wie es das Schicksal so will, sind sie für das, was ich brauche, hervorragend geeignet.“

Noch vor 18 Monaten hatte sie Mühe, 100 Karten für Soloshows in Kirchen zu verkaufen. Aber allein die Brit-Nominierungen haben ihr geholfen, dass ihr Konzert am vergangenen Freitag in der O2-Arena in London in zwei Wochen ausverkauft war. Rayes Durchbruch kam Anfang letzten Jahres, als “Escapism”, die dritte Single aus ihrem damals noch nicht erschienenen Debütalbum, mit Hilfe von TikTok auf Platz 1 schoss. “My 21st Century Blues” erreichte im Februar Platz 2 der Charts und hat sich seither im Vereinigten Königreich 60.000 Mal verkauft – ein ordentlicher Erfolg, aber natürlich noch kein Vergleich zu den millionenfach verkauften Konkurrenten Dua Lipa, Blur oder den Rolling Stones.

Für Raye ist dieser Aufstieg dennoch enorm. Für die großen Plattenfirmen, die die Brit Awards finanzieren, ist es eine Blamage. Ihr Albumtrack „Ice Cream Man” bezieht sich auf sexuelle Übergriffe – „Tryna touch me, tryna f*** me, I‘m not playing?/ Should‘ve left that place as soon as I walked in it“, singt sie. Es überrascht nicht, dass ihr Label nicht wollte, dass sie den Song veröffentlicht.

Sowohl das Trauma als auch ihre Frustration darüber, dass sie auf ihren Songs so lange sitzen bleiben musste, führten zu einer Phase des Drogenmissbrauchs, die auf dem spritzigen, witzigen und klanglich kühnen „Escapism” dokumentiert ist, das im Januar letzten Jahres weltweit in die britischen Top Ten kam und in den USA zu einem Millionenseller wurde.

„Es ist eine gute Zeit für Musikerinnen“

Auf dem Album „My 21st Century Blues”, das zwischen Trip-Hop, Hip-Hop, Funk, Doo-Wop, Blues und Balladen hin und her springt, nimmt Raye die Führungskräfte der Musikindustrie aufs Korn, die ihr zartes Alter ausgenutzt haben. „Wenn man jung ist, ist der Verstand formbar und die Meinung nicht immer die eigene“, sagt sie, als wir uns zehn Tage vor den Brit Awards auf der Birmingham-Etappe ihrer Großbritannien-Tournee treffen. „Als Kind in dieser Branche wurden schreckliche Paranoia und Unsicherheit auf mich projiziert. Mir wurde gesagt, ich solle mich vor allen Frauen fürchten, denen es damals gut ging, als wären wir Konkurrentinnen. Anscheinend gab es nur einen Platz am Tisch, und ich musste darum kämpfen, ihn mir zu sichern. Das war eine sehr verwirrende Geschichte für mich.”

Dann traf sie in London ihre Popstar-Kollegin Charli XCX,  “und sie riss den ganzen Mist nieder, an den ich bis dorthin glaubte. Sie nahm sich trotz vollen Terminkalenders Zeit, um ein Musikvideo für mich zu drehen. Sie lud mich zu sich nach Hause auf dem Lande ein, und wir sangen im Spiegel in unsere Haarbürsten hinein, während sie mir Tipps gab, wie ich auftreten sollte. Ich weiß noch, wie ich bei der Rückfahrt im Auto saß und mir klar wurde, dass alles, was mir von den Männern in der Musikbranche erzählt worden war, eine Lüge war.“

Raye sieht, dass sich die Dinge in den letzten Jahren geändert haben, aber sie glaubt, dass das an den Künstlerinnen liegt, nicht an der Branche. „Es ist eine fantastische Zeit, um eine Künstlerin zu sein“, sagt sie. „Die Unterstützung unter den Frauen ist großartig. Anstatt uns gegenseitig zu verunsichern, bewundern wir uns gegenseitig. Allein das, was Taylor Swift mit der Neuaufnahme ihrer Alben geleistet hat, ist so inspirierend. Das ist eine Menge harter Arbeit, um ihre Rechte zurückzubekommen. Musikverträge können brutal sein, und sie sind nie zu Gunsten der Kreativen”.

Hat sie Angst vor einem Burnout? „Ich habe das Glück, dass zwei freie Tage für mich ausreichen. Auf dem Rückweg von Australien habe ich kürzlich einen Zwischenstopp in Dubai eingelegt, um Fallschirmspringen zu gehen und mit Buggys über Sanddünen zu fahren. Ich war so glücklich über diese zwei Tage, dann war ich bereit, aufgeladen und aufgeregt, wieder an die Arbeit zu gehen. Ich brauche keinen Monat Urlaub. Was würde ich denn mit mir selbst anfangen? Meine Shows sind sowohl körperlich als auch geistig sehr anstrengend. Und, verdammt noch mal, ich singe über den Hass auf meinen Körper und sexuelle Übergriffe. Ich sollte wirklich eine Therapie machen.“