Sollten Sie zu jenen Glücklichen zählen, die eine Reise nach Wien gewonnen haben, müssen Sie unbedingt ein paar Dinge über diese Stadt erfahren, die nicht in Reiseführern stehen. Wien ist nicht nur hübsch und duftet gut. Es ist auch raffiniert gemacht. Wie ein Rosinenkuchen, den man einen Tick zu spät aus dem Ofen gezogen hat. Ganz außen, wo kein Tourist jemals war und es gelegentlich leicht angebrannt riecht, stehen unzählige Gemeindebauten, in denen die Wiener Arbeiterschaft wohnt. Als Nächstes folgt eine fette Schichte aus Studentenlokalen, die fließend in Rotlichtlokale übergehen, wo es oft billig, aber keineswegs niveaulos zugeht. Am Ende erwartet den glücklichen Besucher das Zentrum. Elegant und makellos auf Tausenden Fotos abgebildet, dass man es am liebsten rund um die Uhr einatmen möchte. Man trifft dort zwar kaum noch Menschen, sondern russische Oligarchen und Geschäftsleute, aber mit etwas Glück wird man Zeuge, wie beim „Demel“ ältere Damen ihre Dackel mit Schaumrollen, 20 Euro das Stück, füttern. Ganz zu schweigen von der nicht näher erfassten Anzahl von Fiakern, die in der Tradition der guten alten k. u. k. Kutscherfantasie so manchem frechen vorbeifahrenden Radfahrer die Peitsche geben.

Die schmackhafteste Rosine von allen ist selbstredend der Stephansdom. Er ist das höchste Gebäude im Zentrum, was einst auf Selbstmörder überaus verlockend wirkte. Diese Verlockung wurde diskret durch ein extra Gitter gemindert. Bedauerlicherweise gibt es dort längst keine Gläubigen mehr, woran Wien aber nicht schuld ist, sondern jede Menge Leute mit Handys, die alles filmen, weil sie die Gabe des Sehens verloren haben. Auch als Touristen bekannt.

Die größte Attraktion dieser Stadt sind aber immer noch die Wiener. Man sagt ihnen so viel Skurriles nach und gar Bösartiges. Die Wiener schauen einem nie direkt in die Augen und sehen trotzdem alles. Die meisten spielen ein Instrument, an welchem sie in den eigenen vier Wänden bis in die Nacht üben. Sie unterbrechen ihr Spiel nur, um einen Nachbarn anzuzeigen, wenn dieser selber zu laut ist. Wie jede aussterbende Spezies kann man den Wiener nur noch in wenigen ausgesuchten Refugien antreffen. Am häufigsten trifft man auf ihn in bestimmten Gastgärten, wo man ihn dabei beobachten kann, wie er seiner Fröhlichkeit bei einem Grünen Veltliner freien Lauf lässt. Dieser kostbare Treibstoff wird seit Jahrhunderten aus umliegenden Weinbergen in großen Mengen ins Zentrum transportiert, was dazu geführt hat, dass der am häufigsten ausgesprochene Satz in Wien lautet: "Trinken wir ein Gläschen?" Antworten Sie dann unbedingt mit dem zweithäufigsten Satz: „Aber nur eins, bitte.“

Warum der Weinkonsum in Wien im weltweiten Vergleich so hoch ist, lässt sich übrigens leicht erklären. Diese Stadt musste und muss eine Menge aushalten. Da wäre der Föhn und die Amselpest, die den Wienern schon seit Jahrhunderten zusetzt. Heute steckt das 21. Jahrhundert Wien mit seinen Turbulenzen an.

Noch vor 30 Jahren waren die Wiener ganz unter sich. Der Rosinenkuchen war damals ein riesiges Museum, in dem zwei Millionen Museumswärter auf engstem Raum miteinander lebten. Sie unterhielten sich dabei so intensiv über den Tod, dass sie es seinerzeit in puncto Selbstmord an die Weltspitze schafften. Die Idylle brach dann zusammen, als alles, was auf der Flucht war, Wien für sich entdeckte. Als Erstes kamen die Exjugoslawen, von denen heute nur noch der Namen „Tschuschen“ übrig geblieben ist. Dann erschienen die Polen, die in jedem Wiener einen bestimmten Reflex auslösten. Sobald der Wiener einen polnischen Namen hörte, lief er sofort zum Fenster, um nachzusehen, ob das Auto nicht schon in Warschau war. Und heute sind es die Araber. Sie klauen zwar nichts, verstecken aber, wenn man der „Kronen Zeitung“ glauben will, in ihren hübschen und dichten Haaren immer einen Sprengsatz. Wen wundert es, dass es in keiner anderen Stadt der Welt so viele Ausdrücke gibt, die einen zum Sichentfernen auffordern. Zum Beispiel: „Schleich dich!“ bzw. „Mach ein Servus!“ Oder das stark in Mode kommende, weil arabisch klingende „Hau di iber di Hoisa!“

Wer jedoch glaubt, dass er damit Wien einfach so abkanzeln kann, der irrt. Nirgendwo wird trotzdem auf der Straße so höflich dem Fremden Auskunft gegeben wie in diesem wohlschmeckenden Rosinenkuchen. Nirgendwo ist man geneigter, lieber über Gott und die Welt zu plaudern, als Streit zu suchen.
Und sogar jene, die die Wiener als ausländerfeindlich schimpften, wurden bei der letzten Wahl eines Besseren belehrt. Ausgerechnet hier hat man für den Grünen Alexander Van der Bellen gestimmt und ihn damit zum österreichischen Präsidenten gekürt. Auch die Kriminalstatistiken tanzen neulich im Dreivierteltakt: Gab es in den 70er-Jahren, jener Zeit, als die Wiener ganz unter sich waren, noch etwa 50 Morde pro Jahr, sind es jetzt gerade mal 20.
Als Draufgabe hat dieser Rosinenkuchen Wundersames vorzuweisen, das genauso sehenswert ist wie die Hofburg oder die Kapuzinergruft. Sollten Sie einmal genug von „Anna Bolena“ in der Oper gesehen haben. Oder genug vom Tafelspitz in der Innenstadt gekostet haben, dann besuchen Sie den Donaukanal beim Schwedenplatz. Dort steht bei Schönwetter ein Musikant, der eindeutig nicht von hier ist. Sein Deutsch ist auch nicht das beste, aber er gibt sich Mühe. Er singt ein Lied, das er selber komponiert hat, und der Kehrreim lautet: „Heute bin ich hier, morgen werde ich in Wien sein.“ Damit hat er etwas getroffen, was diese Stadt schon seit Jahrhunderten sagen will: „Am meisten wissen Wien diejenigen zu schätzen, die nicht von hier sind.“ 

Diese Weisheit ist inzwischen auch ganz oben angekommen. Zu meinem runden Geburtstag bekam ich einen Brief vom Rathaus, wo man mir folgendermaßen gratulierte: „Ich wünsche Ihnen noch viel Kraft und Gelegenheiten, das Fest des Lebens in unserer Stadt zu feiern. Viel Glück! Ihr Bürgermeister Michael Häupl“ (mittlerweile Alt-Bürgermeister).