"Ich denke, dass Grenzen keine Mauern sind.“ Nives Meroi sagt das mit einem Lächeln. Hier in Fusine bei Tarvis, am Schnittpunkt dreier Länder, ist eine der größten Bergsteigerinnen aller Zeiten zu Hause. Österreich, Italien und Slowenien treffen sich hier. „Drei Kulturen, drei Arten zu leben.“ Und hier, in den Julischen Alpen, hat für sie alles begonnen.

Als wir uns in der Bar Edelweiss am unteren der beiden Fusine-Seen treffen, wird Meroi freudig begrüßt: Die Meroi kennt man hier. Nach einem Kaffee auf der Veranda, mit Blick auf den grünlich-blau schimmernden See, brechen wir auf. Wir wandern ein paar Meter die Straße nach unten und steigen über Weg 512 durch den Wald in Richtung Svabezza. Meroi (60) geht schnell – wobei sie sich sehr zurückhält.

Früher schaffte sie zum Training den Monte Lussari drei bis viermal hintereinander: Knappe viertausend Höhenmeter in nicht ganz vier Stunden. „Und danach ein Cornetto mit Caffè bei Dawit.“ Ursprünglich stammt Meroi aus Bergamo, kam in jungen Jahren nach Tarvis: „Es war damals schon ein Ort, wo sich viel getan hat.“ Die Berge waren für Tarvis und die Region Friaul-Julisch Venetien immer etwas, das man in Geld verwandeln konnte.

Svabezza: Der Weg 512 führt zum Rifugio Zacchi
Svabezza: Der Weg 512 führt zum Rifugio Zacchi © Andreas Kanatschnig

Aus den Alpen auf alle Achttausender

Hier lernte sie auch ihren Mann Romano Benet (60) kennen, mit dem sie gemeinsam auf allen 14 Achttausendern der Welt stand – eine Liebe fürs Leben. „Die Alpen sind eine gute Schule für den Himalaya“, erklärt sie. Gemeinsam mit Romano, der aus Fusine kommt, geht es hoch hinaus: 1998 erreichen sie den Nanga Parbat, ihren ersten Achttausender. Weitere Gipfel folgen und schon bald wird klar: Nives Meroi kann es schaffen, die erste Frau der Welt zu sein, die auf den 14 höchsten Gipfeln der Welt steht. Natürlich ohne Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff, ohne Höhenträger.

Alles, was die beiden sparen können, stecken sie in die Berge. Romano arbeitet für das Bergfachgeschäft Alpstation in Tarvis, Meroi schreibt und hält Vorträge. „Es war ein natürlicher Weg“, sagt sie. Eine Entwicklung: „Wir haben über Reinhold Messner gelesen, aber nicht gedacht, dass wir das auch schaffen.“ Messner war 1986 der erste Mensch auf allen Achttausendern. „Das Ausmaß der großen Berge trägt sie in sich“, schreibt Messner über Meroi.

Nives Meroi vor dem Rifugio Zacchi
Nives Meroi vor dem Rifugio Zacchi © Andreas Kanatschnig

Berge der Herzen

Sie trägt aber auch ihre heimischen Berge in sich. Nach dem Aufstieg erreichen wir den Svabezza bezeichneten Teil und man merkt, wie sie sich freut. Endlich sieht man den Mangart. Er geht quasi über Meroi auf. Wie oft sie hier unterwegs war, kann sie nicht mehr sagen: „Im Winter, im Sommer, bei gutem Wetter, bei schlechtem Wetter ...“ Auf einem immer wieder schmalen Steig geht es zum Rifugio Zacchi, wo wir eine verdiente Pause einlegen. Die Gnocchi schmecken hervorragend, der Ausblick auf den Mangart ist kolossal.

Die Berge sind gute Lehrmeister: „Einen Rucksack zu packen, ist eine gute Übung, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.“ 2009 scheitern sie an Annapurna und Kangchendzönga: Benet erkrankt. Die Beiden pausieren und schaffen 2017 den letzten ihrer Himalayariesen.
Das Ziel, erste Frau zu werden, verfehlt Meroi, doch sind sie und Benet das erste Ehepaar auf allen Achttausendern. Und sie ist glücklich hier in Fusine, wo sie morgens aus dem Küchenfenster den Mangart sieht: „Das hier sind meine Berge der Herzen.“