Der feucht-kühle Schlick presst sich durch die Zehen. Bis zu den Knöcheln versinkt man im graugrünen Gatsch. Gröbere Sandkörner und kleine Muschelsplitter kitzeln auf den Sohlen. Man hat das nicht unbegründete Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Tatsächlich sind Wanderungen im Watt nur auf den ersten Blick harmlose Spaziergänge durch eine Schwemm- und Schlammlandschaft. Zumindest in der weitläufigen Mündungsbucht des Couesnon-Flusses am Südzipfel der Normandie. Der Fluss, das Meer und die spezielle Küstenform sorgen hier nämlich für den stärksten Tidenhub in Europa. Der Unterschied zwischen Ebbe und Flut kann bis zu 15 Meter betragen. Aber vor allem: Wenn das Wasser von weit draußen – bei Springfluten zieht es sich bis zu 15 Kilometer Richtung Ärmelkanal zurück – wiederkommt, geschieht das so schnell, dass es für Watt-Wanderer gefährlich werden kann. Sie müssen aufpassen, draußen im Watt nicht umspült und eingeschlossen zu werden.

Für die meisten, die hierherkommen, bleibt es eine abstrakte Gefahr. Sie meiden den Gatsch und nutzen die Brücke, um die nach dem Eiffelturm berühmteste Sehenswürdigkeit Frankreichs zu besuchen: den Mont-Saint-Michel – einen ob seiner Lage im Meer, der spektakulären Bebauung und der langen Geschichte gern als „Zauberberg“ titulierten Touristenmagneten. „Der Mont-Saint-Michel ist für Frankreich das, was die Cheopspyramide für Ägypten ist“, schrieb der Schriftsteller Victor Hugo 1884 treffend.

Auf dem 90 Meter hohen Felsmugel befindet sich eines der kleinsten Dörfer des Landes und das wohl bekannteste Kloster. Die Abtei wurde im achten Jahrhundert von Benediktinermönchen errichtet, nachdem einem Bischof im Traum Erzengel Michael erschienen war.

Der Mont-Saint-Michel ist die zweitberühmteste Sehenswürdigkeit Frankreichs
Der Mont-Saint-Michel ist die zweitberühmteste Sehenswürdigkeit Frankreichs © olrat/stock.adobe.com (Olivier Rateau)

Heute kommen Besucher aus der ganzen Welt – vor Corona waren es mehr als 3,5 Millionen pro Jahr – , um die Wendeltreppe, die Säulenhalle und die Aussicht von der Abtei zu bestaunen. Sie alle gehen oder fahren (per Shuttlebus) dabei auch über ein Stück österreichische Baukunst. Denn die aufgestelzte, 760 Meter lange Brücke, die seit 2015 das Festland mit dem Eiland verbindet, wurde vom steirischen Architekten Dietmar Feichtinger entworfen.

Davor gab es über 130 Jahre einen Damm. Er torpedierte aber zunehmend die besondere Lage des Klosterbergs – je nach Gezeitenstand entweder inmitten des glitzernden Watts oder bei Flut vom Meerwasser umspült –, weil er den Rückfluss des Sandes blockierte. Immer mehr Sedimente lagerten sich ab, der Berg drohte „trockengelegt“ zu werden. Das wäre es dann wohl gewesen mit der magischen Anziehungskraft und dem einmaligen Postkartenmotiv. Die Brücke und eine mächtige Wehranlage im Hinterland, die den Meerwasserzu- und -abfluss in den Couesnon jetzt reguliert, haben die Attraktivität des Ortes allerdings gerettet.

Der Elefant am Techno-Campus von Nantes in der benachbarten Bretagne
Der Elefant am Techno-Campus von Nantes in der benachbarten Bretagne © imago/viennaslide (www.viennaslide.com)

Mensch gegen Natur, Mensch gegen Bürokratie, Mensch gegen Mensch: Die Normandie war immer schon Schauplatz geschichtsträchtiger Konflikte. Erst vor drei Jahren eskalierte ein langer Streit unter britischen und französischen Fischern um den Fang von Jakobsmuscheln im Ärmelkanal. Während sich die Franzosen nämlich an vorgeschriebene Fangzeiten während der Wintermonate für die streng geschützten Muschelbestände halten müssen, gelten diese Auflagen für die Briten nicht.

Und dann wären da noch die Spuren von Kriegen und Aufständen, die diesen Landstrich im Nordwesten Frankreichs bis heute prägen. Architektonisch nicht unumstritten ist ein Monument, das an Jeanne d’Arc, die in Rouen gefoltert und am 30. Mai 1431 lebendig verbrannt wurde, erinnern soll. Am Place du Vieux-Marché, auf dem noch bis 1836 Hinrichtungen stattfanden und bis 1944 eine andere Kirche stand, wurde 1979 die Kirche Sainte-Jeanne-d’Arc eingeweiht, deren kühle Betonkonstruktion an ein Wikingerschiff und einen Fisch erinnert.

Die zum Teil windschiefen Fachwerkhäuser von Rouen
Die zum Teil windschiefen Fachwerkhäuser von Rouen © aterrom/stock.adobe.com

Heimeliger wirken da die den Sakralbau umgebenden und die Innenstadt von Rouen prägenden Fachwerkhäuserzeilen. Die in bunten Farben gehaltenen Holzträger unterhalten den Betrachter mit teils wilden Krümmungen.

Schaurig ins Gemüt brennen sich dagegen die Landungsstrände. Auch hier wurde „Geschichte geschrieben“. Selten aber hat die abgegriffene Marketingformulierung der Tourismuswerber eine derart schicksalhafte Bedeutung wie an diesem kleinen Küstenabschnitt bei Caen. Am 6. Juni 1944 landeten hier die alliierten Truppen, um Europa von der Nazi-Herrschaft zu befreien.

Denkmal zur Landung der Alliierten am Omaha Beach
Denkmal zur Landung der Alliierten am Omaha Beach © Imago Images

Amerikaner, Briten, Kanadier und ihre Verbündeten schickten in einer der größten Kriegsoperationen der Geschichte an nur einem Tag 150.000 Soldaten an Land. Viele überlebten die ersten Meter nicht. An den Strandabschnitten Utah Beach, Omaha Beach, Gold Beach, Juno Beach und Sword Beach erinnern Reste von Bunkeranlagen, Gedenkmonumente, Museen und Friedhöfe eindringlich an das Blutvergießen von damals.

Lebensfroher gestalten sich gastronomische Ausflüge quer durch die Region. Es gilt die strikte 3-C-Regel: Wer den von hier stammenden Apfelbranntwein Calvados, den Apfelperlwein Cidre und sämigen Camembert aus Rohmilch nicht probiert hat, war nie in der Normandie.

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