„Haben Sie jemals den Regen gesehen, wie er an einem sonnigen Tag herabfällt?“ Diese Frage auf einem Schild in einer mit bunten Regenschirmen dekorierten Seitengasse in Belfast kann wohl nur eine rhetorische sein. Denn in Nordirland muss das ganze Jahr über, selbst bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel, mit Regenschauern gerechnet werden. „Das ist der flüssige irische Sonnenschein“, meint der Touristenführer Billy Scott, der uns auf unserer fünftägigen Reise durch die britische Provinz begleitet. Auch während der besten Reisezeit von Mai bis September ist ein mehrfacher Wetterumschwung im Laufe eines Tages nicht ausgeschlossen. Belohnt werden die Reisenden dafür oft mit Regenbögen, die die saftig grünen Hügeln mit den grasenden Schafen, zerklüfteten Küsten und mächtigen Klippen in ein noch bezaubernderes Licht rücken. Kein Wunder also, dass die Filmindustrie diesen Teil der irischen Insel schon längst als Kulisse für sich entdeckt hat, wie etwa die weltbekannte TV-Serie „Games of Thrones“.

Doch Nordirland zieht auch immer mehr Reisende in seinen Bann. 2,6 Millionen Übernachtungen von in- und ausländischen Gästen verbuchte man jüngst verfügbaren Daten zufolge. Dabei blickt der Landesteil des Vereinigten Königreiches mit seinen rund 1,9 Millionen Einwohnern auf eine mehr als wechselvolle Geschichte zurück. Knapp drei Jahrzehnte dauerte der blutige Konflikt zwischen protestantischen Unionisten, die für den Verbleib beim Vereinigten Königreich zu den Waffen griffen, und den katholischen Republikanern, die für die Wiedervereinigung mit der Republik Irland kämpften. Beendet wurde der nordirische Bürgerkrieg mit Tausenden Toten durch das Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998. Seit damals haben sich die bunt bemalten Friedenslinien zu Sehenswürdigkeiten entwickelt, die ebenso wie die Wandmalereien im Rahmen von Stadtführungen in Belfast mit den Bussen und Taxis angesteuert werden.

„Das Beste aus beiden Welten“

Eine wachsende Zahl von Menschen fühlt sich heute einer neuen nordirischen Identität zugehörig, die sich weder über die Religion noch über die Nationalität definiert. „Sie bezeichnen sich als Nordiren. Sie verneinen, Iren zu sein, fühlen sich aber auch nicht als Briten, sondern vereinen sozusagen das Beste aus beiden Welten“, erzählt Scott. Die Zahlen stammen von der Volkszählung aus dem Jahr 2021, bei der sich von den über 18-Jährigen mittels Formular zur Nationalität 19,8 Prozent als Nordiren deklarierten. 31,9 Prozent bezeichneten sich als Briten, 29,1 Prozent gaben an, Iren zu sein. Tatsächlich gibt es aufgrund der demografischen Entwicklung erstmals in der knapp 103-jährigen Geschichte Nordirlands – die mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Teilung der irischen Insel nach dem Irischen Unabhängigkeitskrieg am 3. Mai 1921 begann − mit 45,7 Prozent mehr Katholiken als Protestanten (43,5 Prozent), denn die Religionszugehörigkeit wurde für die Gesamtbevölkerung erhoben.

Ob der irische und britische Nationalismus durch den Brexit zugenommen hat? „Vielleicht“, meint Scott, der aber auch auf eine weltweite Zunahme von nationalistischen Entwicklungen verweist. Derzeit befände sich Nordirland „in einer einzigartigen Situation“, da man als Teil des Vereinigten Königreiches trotz des Austrittes aus der Europäischen Union beim EU-Binnenmarkt bleibe.

Touristisch hat Nordirland, das auch von Tourism Ireland mitvermarktet wird, jedenfalls einiges zu bieten. In dem charmanten viktorianischen Gebäude des St. George’s Market in der pulsierenden Hauptstadt Belfast, der in den 1890er-Jahren erbaut wurde, bieten freitags, samstags und sonntags mehr als 250 Händler an ihren Ständen ihre Waren feil. Der lebendige und farbenfrohe Ort ist auch der Ausgangspunkt der preisgekrönten „Belfast Food Touren“, einem vierstündigen kulinarisch geführten Spaziergang durch traditionelle Bars, beste Restaurants und Weltklasse-Geschäfte. „Wie trinkt ihr euren Kaffee? Was möchtet ihr zum Tee?“, fragt die freundliche Führerin Olivia Hummel, mit der sich die Teilnehmer gleich nach dem Frühstück bei lokalen Produzenten durch Rindfleisch-Burger oder Kartoffelgratins mit Rahmgemüse kosten. Anschließend führt die Tour nach weiteren Genuss-Stationen in einem Pub und zwei Delikatessengeschäften noch in einen kleinen Laden namens „Daisies Belfast“, in dem es angeblich die beste heiße Schokolade der Stadt geben soll. „Für mich ist das der flüssige Himmel“, schwärmt die Führerin.

Spektakulär fällt der Besuch im „Titanic“-Museum aus, das im Jahr 2012 genau hundert Jahre nach seinem Untergang an jener Stelle eröffnete, wo das einst größte Passagierschiff der Welt in der Werft von Harland & Wolff gebaut wurde. Von hier brach der britische Passagierdampfer der White Star Line am 10. April 1912 auch zu seiner Jungfernfahrt nach New York auf, bei der nach der Kollision mit einem Eisberg im Nordatlantik 1514 Menschen ihr Leben verloren. Das optisch an einen Schiffsbug angelehnte, 38 Meter hohe Gebäude verfügt über neun Galerien auf sechs Etagen, in denen die Geschichte der „Titanic“ sensationell aufbereitet wird.

Bei Portrush in der Grafschaft Antrim peitschen die Wellen des rauen Atlantiks im Wind gegen die steil abfallenden Klippen der zerklüfteten Küste. Über dem Meer thront unter dem wolkenverhangenen Himmel auf einem Basaltfelsen Dunluce Castle, die wohl romantischste Burgruine Nordirlands, in deren blutrünstiger Geschichte die einstigen Errichter des mittelalterlichen Bauwerkes Mitte der 1550er Jahre vom MacDonald-Clan vertrieben wurden. Das ganzjährig geöffnete Ausflugsziel, einer von 26 „Games of Thrones“-Schauplätzen in der britischen Provinz, liegt an der Causeway Costal Road. 

Diese knapp 200 Kilometer lange Panoramastraße führt von Belfast entlang der Küste mit mächtigen Klippen, abgeschiedenen Buchten und malerischen Fischerdörfern bis nach Derry. Seinen Namen verdankt sie dem „Giant’s Causeway“, der sich an der Atlantikküste östlich des Ortes Bushmills befindet. Einer Legende nach errichtete der irische Riese Finn McCool dort mit rund 40.000 sechs- und achteckigen Basaltsäulen einen langen Damm bis nach Schottland, um zu seinem Widersacher, dem Riesen Benandonner, vordringen zu können. Geologen wiederum führen die Entstehung der bis ins Meer hineinragenden bizarren Felsformationen, die seit 1986 UNESCO-Weltnaturerbe sind, auf einen Vulkanausbruch vor 60 Millionen Jahren zurück.  

Kreuzfahrt auf dem Fluss Bann

Während des Corona-Lockdowns erwarben Fiona Bryant und Ian McKnight die M.V. Kingfisher, die 1947 von den weltbekannten Schiffsbauern Harland and Wolff in der historischen Werft von Belfast gebaut wurde. „Dort wurde auch die berühmte Titanic gebaut“, schwärmt Bryant. Nach der Restauration des klassischen Hafenanlegers starteten sie mit dem gemeinsamen Unternehmen „White River Charters“ und schippern Besucher über den wundervollen Fluss Bann. Ausgehend vom Jachthafen in Coleraine geht die zweistündige Bootsfahrt „Das Beste vom Bann“ flussaufwärts vorbei an Loughan Island nach Camus und weiter in Richtung Drumaheglis. 

Hochprozentiger geht es bei der „Der Geist des Bann“-Tour zu, die von der Causeway Coast Foodie Tours veranstaltet wird, denn bei dieser Flusskreuzfahrt wird eine Whiskey-Verkostung angeboten – mit einer Auswahl an Whiskys, die von der Bushmills Distillery hergestellt werden, der ältesten lizenzierten Whisky-Destillerie der Welt.