Man kann den kahlen Sichtbeton in der Unterkirche von Nazareth als überholte kirchliche Modernismusarchitektur der 1960er-Jahre abtun. Eines bewirkt er allerdings: die Konzentration der Pilger auf eine kleine Höhle, zu der man ein paar Stufen hinabsteigt. Diese Höhle, die den rückwärtigen Teil des Wohnhauses von Maria gebildet haben soll, darf man nicht betreten. Sie liegt hinter einem Gitter des Lienzer Kunstschlossers Hermann Pedit. Dieses gibt aber den Blick auf einen Altar frei, der in Erinnerung an den Besuch des Engels Gabriel bei Maria die Aufschrift trägt: „Verbum caro hic factum est“ – „Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14).


Die ganze religiöse Inbrunst der Pilger konzentriert sich auf diesen Ort. Marienlieder werden gesungen, der „Engel des Herrn“ wird gebetet, manchmal auch ein Rosenkranz. Die Pilger sind sich sicher, an dem authentischen Ort der Verkündigung zu stehen, von der im Lukasevangelium (1,26 ff) berichtet wird. Nur wenige Hundert Meter weiter pflegen Pilger aus Osteuropa in der orthodoxen Verkündigungskirche dieselbe Sicherheit.


Nach der Andacht steigen die Besucher auf der gegenüberliegenden Seite ebenso viele Stufen wieder in die Höhe. Religiös noch ganz erfüllt von der Heiligkeit des Ortes übersehen die meisten von ihnen die stark stilisiert gemalten Palmen in einer Nische. Diese waren ursprünglich Zeichen der Verehrung Mariens in einer judenchristlichen Synagogenkirche aus dem dritten Jahrhundert. Die Judenchristen erinnerten mit dieser Malerei an das Paradies, meinten aber Maria, die sie nicht darstellen durften, denn es galt nach wie vor das alttestamentliche Bildverbot.


Dort, wo die Mutter des Herrn ist, sei auch das Paradies, lautet die Botschaft der Palmen. Transportiert wird aber noch eine Idee: jene der Gegensätzlichkeit von Maria, der reinen Frau der Gnade, und Eva, der Frau der Sünde. Was hier nur zart angedeutet ist, wird vor allem in der mittelalterlichen Kirchenmalerei zu einem häufigen Motiv.

Warum aber überhaupt Maria?

Von ihr ist aus dem Neuen Testament nur wenig bekannt. Der Evangelist Johannes erwähnt sie namentlich ebenso wenig wie Paulus. Insgesamt kommt sie als „Maria“ in nur vier der 27 Schriften des Neuen Testaments vor, an zwanzig weiteren Stellen ist von der „Mutter des Herrn“ oder der „Mutter Jesu“ die Rede.


Die Frage ist: Wie kann eine Person, die im Heilsgeschehen Jesu beinahe eine Nebenrolle spielt, von den Judenchristen und später auch von den Heidenchristen so verehrt werden? Die Antwort liegt in der Bereitschaft Mariens begründet, die Anrufung Gottes uneingeschränkt anzunehmen. Auf die Ankündigung Gabriels, dass sie den „Sohn des Höchsten“ empfangen werde, antwortet sie: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“


Die Judenchristen, die die Schriften des Ersten Testaments sehr genau kannten, konnten über diese Antwort nur staunen. Denn sie wussten von den großen und starken männlichen biblischen Gestalten, von denen einige abwehrend auf den Anruf Gottes reagierten. Als Gott Mose beruft, antwortet dieser: „Aber bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann.“ Jeremia versucht sich hinauszureden: „Ich bin ja noch so jung“, und Jona besteigt überhaupt ein Schiff, um Gott zu entfliehen. Maria aber, die vermutlich auch erst 16 Jahre alt war und ihre eigenen Lebenspläne gehabt haben dürfte, lässt sich diese durchkreuzen und ergibt sich ohne Widerspruch dem göttlichen Willen. Das erhob sie in den Augen der Judenchristen über viele andere biblische Gestalten.


So viel steht fest: Maria ist eine Frau des Gottvertrauens. An diese Welt des Glaubens führte sie Jesus heran. Es gibt keinen Zweifel daran, dass er schon mit drei, vier Jahren die ersten hebräischen Worte lesen konnte und mit acht Jahren Teile der Thora auswendig rezitieren konnte. Er hielt die jüdischen Speisegesetze und die Gebetszeiten ein, er besuchte am Schabbat die Synagoge und pilgerte gemeinsam mit seinen Eltern mehrfach in jungen Jahren nach Jerusalem, um im Tempel zu beten und zu opfern. Eine höhere theologische Ausbildung bei einem der großen Rabbiner erhielt er zwar nicht, aber dennoch bezeichnen ihn seine Jünger als „Rabbi“. Das zeugt von Jesu Gelehrsamkeit, vor allem aber von seinem charismatischen Stil, mit dem er seine Zuhörer begeistert: „Und die Menschen waren voll Staunen über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten“ (Mk 1,22).

Ort der Auseinandersetzung


Nazareth ist aber nicht allein der Ort der Verkündigung, es ist auch der Ort der Auseinandersetzung. Das älteste der vier Evangelien, jenes des Markus, dessen Abfassung um das Jahr 70 angesetzt wird, berichtet schonungslos von einem Konflikt Jesu mit seiner Familie. Diese kommt nach Kapernaum, wo Jesus wirkt, um „sich seiner zu bemächtigen. Denn sie sagten: Er ist von Sinnen“ (Mk 3,20). Wenn man versteht, wie intensiv familiäre Bindungen im Orient sind, begreift man die Härte, mit der er seine Herkunftsfamilie zurückweist: „Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich. Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ In diesen Sätzen zeigt sich: Jesus wird oft nicht verstanden; und: Seine Welt ist oft viel radikaler, als uns das angenehm ist.


Maria über allem: Das empfindet der Besucher der Verkündigungskirche, wenn er in die Kuppel blickt, die wie eine nach unten hin offene weiße Lilie, das Symbol der Reinheit Mariens, konstruiert ist. Kaum bekannt ist die Theologie, die diesem Bauwerk zugrunde liegt. Sie beruht auf der jüdischen Kabbala, konkret auf dem „Buch der Schöpfung“. Der Text aus dem neunten Jahrhundert erklärt, dass Gott die Welt aus „32 verborgenen Wegen der Weisheit geschaffen hat“. Die Zahl setzt sich aus den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und dem zehnmaligen „Und Gott sprach“ in der Schöpfungsgeschichte zusammen. Diese Buchstaben, die als metaphysische Schöpfungskräfte verstanden werden, grub „Gott ein, formte sie und vertauschte sie. Mit ihnen bildete er die ganze Schöpfung.“


Getragen wird die Kuppel von 16 Blütenblättern mit je zwei Flächen – also mit 32 Flächen, der Zahl der Weisheitswege. Und auf jedem dieser nach oben bis zur Laterne der Kuppel in den Himmel strebenden Pfeiler ist der Buchstabe „M“ genau 23 Mal – „Gott vertauschte sie“ – dargestellt. Die Schlussfolgerung lautet: Der Weg zu Gott führt über Maria.


Übrigens: Der nackte Sichtbeton der Unterkirche bekommt bei Sonnenschein eine mystische Färbung. Zu verdanken ist dies den wunderbar farbkräftigen Fenstern der österreichischen Künstlerin Lydia Roppolt (1922–1995).

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Wolfgang Sotill in seinem geliebten Israel
Wolfgang Sotill in seinem geliebten Israel © KK