Das Bild der Altstadt Jerusalems, wie man sie vom Ölberg aus sieht, kennen die meisten, selbst jene, die die Stadt noch nicht besucht haben. Es ist uns geläufig, weil Journalisten gern eine der Plattformen am Südende des Berges nutzen, um von dort ihre Botschaften in alle Welt zu senden. Im Hintergrund erstrahlt die goldene Kuppel des Felsendoms. Etwas links davon befindet sich die Al-Aksa-Moschee, dazwischen sieht man die beiden grauen Kuppeln der Grabeskirche sowie den hellen Turm der evangelischen Erlöserkirche. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hat diesen selbst entworfen und die Kirche bei seinem Besuch 1898 eingeweiht.

Noch weiter südlich erstreckt sich das nach dem 1967er-Krieg neu errichtete jüdische Viertel mit der hellen Kuppel der Hurva-Synagoge. Wendet man den Blick vom Felsendom nach Norden, so kann man inmitten des Gewirrs kleiner Häuser das Österreichische Hospiz ausmachen. Umrahmt wird die Altstadt von einer Mauer, deren gut sichtbares Südost-Eck auch als die „Zinne des Tempels“ bezeichnet wird. Dort soll der Teufel Jesus versucht haben, sich hinunterzustürzen. Denn wenn er Gottes Sohn sei, würden Engel kommen, damit sein Fuß an keinen Stein stoße (Mt 4,5 ff).

Wer an einem Palmsonntag nach 14 Uhr vom Stadtzentrum Jerusalems mit dem Taxi auf den Ölberg fahren will, zahlt mindestens den doppelten Tarif. Denn die Zufahrtsstraßen sind alle gesperrt und Schleichwege sind eben teuer. Aber jeder Preis lohnt sich, denn die Palmprozession, angeführt vom Lateinischen Patriarchen Pierbattista Pizzaballa, ist eine eindrucksvolle Demonstration eines vitalen christlichen Glaubens in einer religiös zerrissenen Stadt.

Die Christen in Israel und auch in Palästina machen nur zwei Prozent der jeweiligen Gesamtbevölkerung aus. Und doch sind sie im biblischen Land oft das „Salz der Erde“: Ihre Schulen sind überfrequentiert, ihre Sozial- und Bildungseinrichtungen gut besucht, die Altersheime und Spitäler überbucht. Zudem führen sie Einrichtungen, die man in der streng nach politischen Lagern und konfessionellen Grenzen geteilten Stadt gar nicht vermuten würde: etwa das Krankenhaus St. Louis nahe der Altstadt, wo Sterbende oder geriatrische Patienten von der einen und der anderen nahöstlichen Konfliktpartei Bett an Bett liegen.

In Dutzende Konfessionen zersplittert

Für eine offizielle verbale Anerkennung der Christen und ihrer Leistungen reicht es zwar immer wieder, aber weder von jüdischer noch von muslimischer Seite werden sie ernsthaft beachtet. Ein politisches Gewicht haben sie erst recht nicht, was freilich auch mit der Zersplitterung in mehrere Dutzend Konfessionen zu tun hat.

Aber an diesem heutigen Palmsonntag feiern die Christen gemeinsam und fühlen sich damit den ersten Anhängern Jesu besonders nahe: „Als er sich dem Abhang des Ölbergs näherte, begann die Schar der Jünger freudig und mit lauter Stimme Gott zu loben wegen all der Machttaten, die sie gesehen hatten.“ (Lk 19,37) In dieses Lob Jesu stimmen die einheimischen Araber bei der Prozession über den Ölberg ein, wenn sie ihre orientalischen Gesänge sehr laut darbieten. Den polnischen Nonnen, die am Weg vom Ölberg hinunter zum Garten Getsemani selbstversunken den Rosenkranz beten, scheint dies freilich ein wenig fremd zu sein. Nicht aber einer Gruppe tanzender „Kleiner Schwestern Jesu“, einer Ordensgemeinschaft, inspiriert von Charles de Foucauld. Sie nehmen Kinder, die staunend am Wegrand stehen, in ihre Mitte, umkreisen sie mit einigen rhythmischen Schritten, um ihnen einen ihrer Ölzweige zu schenken. Es ist gut, zu sehen, dass die Kirche nicht nur jung, sondern auch fröhlich ist.

Wo Jesus Lazarus von den Toten auferweckte

Ihren Ausgang hat die Prozession in Betanien am Ostabhang des Ölbergs genommen, wo Jesus seinen Freund Lazarus von den Toten auferweckte (Joh 11,1–44). Vermutlich wohnte er, wenn er aus Galiläa nach Jerusalem kam, um im Tempel zu beten und zu lehren, bei seinen Freunden Maria, Marta und Lazarus. Von dort ging er über den Höhenkamm in die Heilige Stadt und staunte oben am höchsten Punkt seines Wegs, wo sich der Blick über die Stadt weitet, genauso über deren Schönheit, wie wir das heute tun. Nur sah er damals noch den mit Goldplatten verzierten Tempel vor sich, das größte Einzelbauwerk der Antike.

Spuren der eigenen Kultur im Heiligen Land zu entdecken ist etwas, das jeden Reisenden erfreut. Das ist am Ölberg in der Paternosterkirche möglich, wo das Vaterunser in 170 Sprachen und Dialekten auf Tafeln zu lesen ist. Diese Kirche, die eine lange Baugeschichte und eine noch längere Verfallsgeschichte hat, steht über einer Höhle, die seit den Zeiten der heiligen Helena, die Jerusalem im Jahre 326 besucht hatte, verehrt wird. Angeblich soll Jesus dort – so berichtet es zumindest der Evangelist Lukas (11,1–4) – seine Jünger das Vaterunser gelehrt haben. Matthäus hingegen verortet das Gebet des Herrn in Galiläa, wo er es in die Bergpredigt einbettet. Jesus heilte und lehrte am Ölberg und er weinte dort auch über Jerusalem, weil er nach dem Lukas-Evangelium (19,41) die Zerstörung der Stadt voraussah, die tatsächlich im Jahre 70 durch die Römer erfolgte: „Es werden Tage über dich kommen, in denen deine Feinde rings um dich einen Wall aufwerfen, dich einschließen und von allen Seiten bedrängen.“ Um dieses Wort Jesu zu verewigen, beauftragten die Franziskaner in den 1950er-Jahren den italienischen Architekten Antonio Barluzzi auf halber Höhe des Ölbergs eine Kapelle zu errichten. Bekannt ist „Dominus flevit“ („Der Herr weinte“) wegen seines Fensters hin zur Altstadt. Barluzzi schuf damit ein Fotomotiv, das kaum weniger bekannt ist als der Blick vom Ölberg selbst: Die Kuppel des Felsendoms umgibt den Kelch Jesu mit einer mystisch-goldenen Aura.

Mit der Himmelfahrt Jesu (Apostelgeschichte 1,4 ff) gibt es einen weiteren heiligen Ort am Ölberg für die Christen. Da aber kaum etwas einen Ort verehrungswürdiger macht als die Konkurrenz der Religionen, ließ Saladin im 12. Jahrhundert die dortige Kapelle in eine Moschee umwandeln. Der schlichte romanische Bau war wenige Jahrzehnte zuvor von den Kreuzfahrern um zwei Vertiefungen im Boden errichtet worden, die bis heute als die Fußabdrücke des Auferstandenen von Christen und Muslimen verehrt werden. Es braucht viel Fantasie, um sie zu erkennen. Aber was sagt Jesus zum ungläubigen Thomas? „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben!“

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Wolfgang Sotill in seinem geliebten Israel