Am Ostabhang des Ölbergs, der Wüste Juda zugewandt, lag inmitten von Olivenhainen ein kleines Dorf namens Betanien. Dort lebten die beiden Frauen Marta und Maria mit ihrem Bruder Lazarus – sie waren Freunde Jesu. Als ihr Bruder krank wurde, schickten die Schwestern nach dem Mann, der schon so viele Menschen geheilt hatte. Bis dieser allerdings erschien, war Lazarus bereits vier Tage tot (Joh 11).

Berichte über die Auferweckung des Toten verbreiteten sich im nahen Jerusalem ebenso rasch wie die Ankündigung, dass dieser Jesus in die Stadt kommen werde. Die Nachricht begeisterte die Massen. Auch wenn viele, die in diesen Tagen zum Pessach-Fest nach Jerusalem gekommen waren, dem Mann aus Nazareth noch nie begegnet waren, so faszinierte er sie. Ihm eilte ein ungeheurer Ruf voraus: als Lehrer, der seine Zuhörer unterwies „wie einer, der göttlich Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten“ und als jemand, der viele Wunder gewirkt hatte. Ein solches selbst zu erleben, darauf hofften sie wohl alle. Und auch, wenn Jesus diesen Anspruch selbst nie erhob, so sahen viele Juden in ihm den Befreier vom Joch der Römer. Die Menschen erwarteten, dass mit Jesus die Herrschaft des ewigen Gottes Israels auf Erden anbrechen werde.

Als Jesus nun auf einem Esel über den Ölberg ritt, riefen die Menschen „ihrem König“ zu: „Hosanna dem Sohn Davids! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!“ Und sie winkten ihm mit den Insignien eines Herrschers: den Zweigen des Olivenbaums. Olivenzweige – daran hatten die frommen Juden keinen Zweifel – waren die Attribute eines Königs. Hieß es doch im Buch Richter (9,8): „Einst gingen die Bäume hin, um sich einen König zu salben, und sie sagten zum Ölbaum: Sei du unser König.“ Und so wurde der Ölbaum zu einem königlichen Signum, zu einem Zeichen des Friedens und des Heils, wie dies bereits in dem Sintflutbericht des Noach (Genesis 8) angekündigt ist: „Dann wartete er noch weitere sieben Tage und ließ wieder die Taube aus der Arche. Gegen Abend kam die Taube zu ihm zurück und siehe: In ihrem Schnabel hatte sie einen frischen Ölzweig.“

Ein weiteres Symbol der königlichen Herrschaft Jesu stellt das „Fohlen einer Eselin“ dar, auf dem er nach Jerusalem hineinreitet. Auch wenn heute der Esel bei den meisten Predigten am Palmsonntag als Zeichen der Bescheidenheit Jesu interpretiert wird, so bleibt er doch ein königliches Reittier, wie der Prophet Sacharja (9,9) bereits um 520 v. Christus belegt: „Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Gerecht ist er und Rettung wurde ihm zuteil, demütig ist er und reitet auf einem Esel, ja, auf einem Esel, dem Jungen einer Eselin.“ Dieser triumphale Einzug provozierte den Hohen Rat: „Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben.“

Roms Furcht vor den rebellischen Juden

Hellhörig dürften aber auch die Römer geworden sein. Denn diese hatten Angst, dass es gerade zu Pessach, jenem Fest, an dem die Juden ihre Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens feiern, zu einem Aufflammen des Freiheitsgedankens kommen könnte – und zwar nach dem Motto: Diesmal verschaffen wir uns Freiheit von den Römern.  Tatsächlich hatten die Römer alle Gründe, wachsam zu sein, traten doch zu dieser Zeit mehrere Männer auf, die den Untergang Jerusalems, das Ende der Welt, die Ankunft des Messias und das Ende der Zeiten verkündeten.

Das Verhältnis zwischen Juden und Römern war empfindlich gestört. Die Römer hatten das Land im Jahr 63 vor Christus erobert, die jüdischen Hasmonäer ihrer Herrschaft beraubt und danach nur mehr Klientelkönige eingesetzt. So berichtet der römische Historiker Tacitus, dass die Juden „den Göttern verhasst“ und ihr Glauben „den übrigen Religionen“ entgegengesetzt sei. Den Shabbat hätten sie gar nur „wegen ihrer Faulheit“ eingeführt und im Tempel beteten sie einen Esel an.

Die Geringschätzung zeigte sich in der Behandlung der Juden am Tempel von Jerusalem. So musste der Hohepriester beim Statthalter Roms vorsprechen, um am Großen Versöhnungstag seine Insignien, einen Brustschild mit zwölf Edelsteinen, aus dessen Gewahrsam zu bekommen. Dass die Römer die Juden verachteten, zeigen auch einfache Soldaten, von denen einer einmal sein Hinterteil entblößte, als er am Tempel Wache schob. Unruhen waren die Folge.

Die intensivsten Auseinandersetzungen fochten die Juden des ersten nachchristlichen Jahrhunderts mit Pontius Pilatus, dem Statthalter Roms, aus. Pilatus, der sein Amt im Jahr 26 angetreten hatte, provozierte seine frommen Untertanen in Jerusalem, indem er heimlich in der Nacht Feldzeichen aus Caesarea in die Heilige Stadt bringen ließ. Dabei versah er den Reichsadler noch mit Brustbildern des Kaisers. Die Juden waren „überzeugt, ihre Gesetze würden mit Füßen getreten, denn diese verbieten es, dass in der Stadt ein Bildnis aufgestellt wird“, schreibt der jüdisch-römische Schriftsteller Josephus Flavius im „Jüdischen Krieg“. Ein anderes Mal griff Pilatus in die Tempelkasse, um eine Wasserleitung bauen zu lassen. Auch wenn diese dem Tempel zugutekam, so war es für die Juden undenkbar, dass sich ein Römer an ihrem Geld vergriff.

Das Judentum war zur Zeit Jesu völlig gespalten

Wie mit den Römern umzugehen sei, beschäftigte das Judentum der Zeitenwende intensiv. So meinten die Zeloten, dass derjenige, der die Römer im Land dulde, Gottes Herrschaftsrecht verletze, während die Pharisäer davon überzeugt waren, dass die Römer eine „Prüfung Gottes“ seien, die man ertragen müsse. Den Sadduzäern hingegen ging es darum, das Volk politisch ohne großen Tumult durch alle Klippen zu steuern, und die Essener warteten auf den Zeitpunkt, an dem Gottes Rache über Rom hereinbrechen würde. In dieser politisch aufgeheizten Stimmung stellten einige Pharisäer Jesus die Frage (Mt 22,15), ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen. Das war eine Fangfrage, denn jede Antwort konnte nur eine falsche sein. Jesus aber replizierte klug und unangreifbar: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört.“

Der Palmsonntag, noch als triumphaler Einzug Jesu in Jerusalem gefeiert, wird in seiner politischen Dimension ab Gründonnerstag fassbar, wenn er gefangen und als politischer Aufwiegler dem Römer Pontius Pilatus vorgeführt wird.

Lesen Sie morgen: Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?