Im Wadi Qelt. Es ist ein sonniger Frühlingstag. Gute fünf Stunden wandern wir gemeinsam durch die Judäische Wüste zwischen Jerusalem und Jericho. In der Regenzeit zeigt sie sich uns in ihrer beeindruckenden Lebendigkeit. Die biblische Rede von der Oase, vom Ruheplatz am Wasser, vom Brunnen als Überlebensquell wird zum Symbol für Jahwe, der über 40 Jahre sein Volk durch die Wüste aus der Gefangenschaft in die Freiheit führt, ins Sehnsuchtsland, ins Land, wo Milch und Honig fließen.

„Vom Reisen.“ So antwortete vor Jahren Peter Handke auf die Frage, woher er den Stoff für seine Bücher nehme. Solches „Reisen“ durch biblische Landschaften als „Erfahrung“, als „Horizonterweiterung durch Unterwegssein“ ist Hintergrund dieser vorösterlichen Meditation.

Vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel gehören Reisen und Wanderungen und die dabei gemachten Erfahrungen zur Grundmelodie alles Lebendigen. Wer das älteste Buch der Welt so zu lesen versucht, versteht seinen eigenen Lebensweg eingebunden in den Erfahrungsschatz vieler. Gipfelsiege, Glanzleistungen, Irrwege, Umwege und Sackgassen werden dort beschrieben, deren tiefe Wahrheit und therapeutische Kraft erstaunlich modern wirken.

Immer geht es dabei um Ermutigung, um „Zumutung von innen her“, um das Feuer innerer Bereitschaft und wenn nötig um einen radikalen Perspektivenwechsel. So können im Menschen schlummernde Selbstheilungskräfte aktiviert und neue Ziele ins Auge gefasst werden. Selbst dem hochbetagten Abraham gelingt es so noch, aufzubrechen. Wer so die Bibel liest, mag staunen, was sie den Abenteurern des Lebens auch heute noch zu bieten hat. Sie ist „heilige“ Schrift im Sinne von „heilender“ Schrift, sie „gehört“ nicht nur Juden und Christen, sie ist als gebündelter Erfahrungsschatz Kulturgut der Menschheit und offen für alle, die bereit sind, in diesen Erfahrungsschatz einzutauchen.

Die Kraft biblischer Texte

So ist die ermutigende Kraft biblischer Texte seit Jahren auch eine immer wieder auftauchende Begleitmelodie meiner therapeutischen Arbeit. Und das Erstaunliche dabei liegt darin, dass nicht ich als Therapeut oder Theologe die Sprache darauf bringe, sondern meine Patienten auf der Suche danach, wie Leben „gelingen“ könnte. Mit „gelingen“ ist hier weit mehr gemeint als „erfolgreich sein“, es meint jene geheimnisvolle Erfahrung, dass Rückschläge, Enttäuschungen, selbst aussichtslos scheinende Situationen in den Karwochen des Lebens nicht einfach hingenommen und in Demut ertragen werden müssen, sondern „von innen her“ betrachtet zum Sprungbrett, vielleicht sogar zum Tanzboden für unerwartet neue Möglichkeiten werden.

So erscheint mir die mit dem heutigen Palmsonntag beginnende Karwoche als gut inszenierte Pädagogik des Herzens, die einem Menschen, der Hilfe sucht, Mut zufächelt, ihm wieder auf die Sprünge hilft, ihm beisteht, damit er wieder festen Boden unter seine Füße und den Mut bekommt, aufzustehen und unter einer anderen Perspektive weiterzugehen. Oder anders gesagt: Es geht darum, einem Menschen, der aus welchen Gründen auch immer auf den Wegen seines Lebens den alten Schuhen entwachsen ist, bei der Suche nach „neuem Schuhwerk“ behilflich zu sein.

Letztlich geht es im besten Sinn des Wortes um „Auferstehung“, um die Befreiung aus der Erfahrung des „Aufs-Kreuz-gelegt-und-angenagelt-Seins“, es geht um einen Ausweg aus vermeintlicher Ausweglosigkeit, um Hoffnung in zunächst bedrückender Hoffnungslosigkeit. Es geht um das, was Augustinus in einer seiner großen Reden seinen Zuhörern zuruft: „Sei, der du bist, und wachse voran, ein anderer zu werden, als du bist! Denn wo du Halt machst, bleibst du stehen, und wenn du sagst 'ich habe genug geleistet', bist du verloren!“

Auf der Suche nach neuen Lebensperspektiven die Bibel so in die Hand zu nehmen und sie dort zu lesen, wo sie geschrieben wurde, ist mir in diesen Tagen in einer Gruppe von 34 Mitreisenden ein großes Erlebnis. Dabei geschehen immer wieder kleine Wunder des Verstehens, wo das Wesentliche leise, aber heiter daherkommt und uns in seltener Innigkeit miteinander verbindet. Dabei kommt mir des Öfteren der Gedanke, dass der biblische Mensch sich noch nach solchen Wundern zu bücken weiß, während der neuzeitliche Weltbürger hoch erhobenen Hauptes nur mehr Ausschau zu halten scheint nach Möglichkeiten, die er möglichst, ehe sie von anderen erspäht werden, für sich behalten will.

"Stachel im Fleisch"

Mit biblischen Texten macht sich ein Therapeut zunächst verdächtig, der Religion sozusagen durch die Hintertür zum Durchbruch zu verhelfen, als ginge es ihm nicht um den Menschen. Dazu kommt, dass Religion im Moment so etwas wie der Stachel im Fleisch vieler zu sein scheint. „Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst der Religion“, hat der Philosoph Peter Sloterdijk formuliert und damit einer eigenartigen Angst Ausdruck verliehen. Unbestreitbar ist, dass Religionen natürlich auch gefährlich sein können und in ihrer politischen Gegenwart mit fundamentalistischer Erregungskraft wie ein Sprengkopf wirken. Mit Religion steht etwas Unkontrollierbares im Raum. Das zeigt sich an der Empfindlichkeit „hochreligiöser“ Menschen. Wer Gott beleidigt, verletzt heiligste Gefühle und damit diejenigen, die an ihn glauben.

Das Besondere an unserer Reise ist, dass zwar oft von „Gott“ geredet, diese Frage aber als Kulturgut aller Religionen betrachtet wird. Gott wird weder bewiesen noch geleugnet, sondern als biblischer Ausdruck für innere Verankerung, Orientierungshilfe und persönlichen Halt wertgeschätzt.

Auch die fundamentale Bedeutung Heiliger Schriften ist uns wichtig, ihre verborgenen Schätze und tiefen Weisheiten, die sie als Erfahrungsschatz über alle religiösen Grenzziehungen hinaus als Lehrmeisterin des Lebendigen ausweist.

„Die Wahrheit“, hat der Theologe Hans Urs von Balthasar gesagt, „ist symphonisch“, ein Zusammenklang aus vielen Einzelstimmen; dabei ist jede Stimme wichtig und wertvoll, weil sie aus dem Leben, aus konkret-persönlicher Lebenserfahrung kommt. Unterschiede bedeuten nicht Trennung, sondern verschiedene Farben von Wahrheit.