"Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht!“ Dieser Satz aus dem Johannesevangelium (11, 50) ist der Schlüssel zu den Ereignissen, die sich an jenem Tag in Jerusalem ereignet haben, den wir heute als Karfreitag bezeichnen: der Prozess gegen Jesus, seine Verurteilung, seine Hinrichtung.

Mit diesem Satz ist aber auch klar: Das Urteil gegen Jesus stand bereits vor dem Prozess gegen ihn fest. Nun galt es dieses zu vollstrecken und das war aus jüdischer Sicht nicht ganz einfach. Denn das „ius gladii“, das Recht jemanden zu töten, lag ausschließlich bei den Römern, vertreten durch Pontius Pilatus. Den Statthalter Roms galt es nun zu überzeugen, dass Jesus hingerichtet werden sollte.

Die Gründe der Juden, dass dem Wanderprediger Jesus die Massen nachliefen, dass er als Wunderheiler Unruhe ins religiöse Gefüge brachte und dass er die jüdischen Gesetze missachtete – all diese Anschuldigungen würden Pilatus aber nicht überzeugen. Denn es war Politik der Römer, in unterworfenen Provinzen sich nicht in innerreligiöse Angelegenheiten der Untertanen einzumischen, solange diese nicht die öffentliche Ordnung störten.

Somit musste Kajaphas einen Grund finden, der es Pilatus erlauben würde, den „gefährlichen Aufrührer“ Jesus zu kreuzigen. Dann würde Pilatus ein gutes Gewissen und er als Vorsitzender des Hohen Rates die Gewissheit haben, dass die alte Ordnung wieder hergestellt sei. Eine Ordnung, die Jesus übrigens nicht grundsätzlich in Frage gestellt hat, deren gesetzestreue Auslegung er aber hinterfragt hat, wenn er am Shabbat Ähren gepflückt oder am Schafteich in Jerusalem (heute: Bethesdateich) einen Mann am Shabbat geheilt hat, der bereits seit 38 Jahren krank war. Besonders provoziert hat die Führungsschicht der Juden aber auch, wie Jesus seine Handlungen begründet hat: „Der Shabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Shabbat.
Es war die Sprache Jesu, die fromme und hochgelehrte Juden aufs Äußerste gereizt hat. So hat er behauptet: „Ehe Abraham ward, bin ich“. Oder: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in Finsternis wandeln.“ Damit schreibt sich Jesus als Erlöser der Welt sogar die Attribute eines Messias zu. Ein Mann aus Galiläa, der von seinen Eltern zwar eine religiöse Erziehung bekommen hat, aber nie von den großen Rabbinern im Tempel unterrichtet worden war – solch ein Provinzprediger erhob sich über all die anderen Gelehrten und nahm zudem für sich in Anspruch ein König zu sein, wenngleich auch sein Reich „nicht von dieser Welt“ war.

Zum Beweis, dass dieser Jesus größenwahnsinnig war, konnten seine Gegner auch noch den Aufruf zitieren: „Reißt den Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wiederaufrichten.“ Tausende Arbeiter haben Jahrzehnte gebraucht, um dieses größte Einzelbauwerk der Antike zu errichten. Und diesen Bau wollte der Nazarener in drei Tagen wiedererrichten? Selbst wenn Jesu Zeitgenossen die Aussage bildlich gedeutet hätten, wäre diese nicht weniger provokant gewesen. Denn von den Toten auferstehen, das konnte nur Gott bewirken. Sollte sich dieser Jesus also tatsächlich in die Nähe des Herrn über Leben und Tod rücken?
Das war nicht das einzige Bekenntnis Jesu zu seiner göttlichen Identität. Ein weiteres offenbart er, als seine Jünger am See 153 Fische fangen. Schreibt man nach einer alten jüdischen Gepflogenheit jeder Ziffer einen Buchstaben zu, dann ergibt dies den Ausdruck „ani elohim“ – „Ich bin Gott“.

Zu diesen blasphemischen Äußerungen kamen für Jesu Gegner auch noch wirtschaftliche Gründe, dessen Tod zu fordern. Und zwar finden sich diese in der Tempelreinigung. Alle vier Evangelisten berichten, dass Jesus im äußersten Bezirk des Tempels, im Vorhof der Heiden, Geldwechsler sitzen sah, deren Aufgabe es war, das römische Geld, das das Abbild des Kaisers zeigte und somit nicht koscher war, gegen rituell sauberes Geld zu wechseln. Das wäre nicht weiter störend gewesen, wenn das Wechselgeschäft nicht in den Händen der Hohepriester gewesen wäre. Diese haben also mit den von ihnen aufgestellten Normen ein sehr gutes Geschäft gemacht.

Noch ärgerlicher aber war für Jesus, dass auch die angeblich koscheren Münzen des Tempelgelds ein Bildnis zeigten. Nämlich das des heidnischen Gottes Melkart aus Tyros, der Eigenschaften des Gottes Baal verkörperte. Gegen Baal war der Prophet Elias bereits 900 Jahre zuvor aufgetreten. Die Erklärung, warum das Bildnis des Kaisers nicht, wohl aber jenes eines Götzen akzeptiert wurde: Die Münze aus Tyros hatte einen Silbergehalt von 94 Prozent und war deswegen inflationssicher. Diese Doppelmoral deckt Jesus auf und er schleudert den Geldwechslern zornig den Satz entgegen: „Ihr habt aus dem Haus meines Vaters eine Räuberhöhle gemacht.“

Aber all die Argumente, dass Jesus anmaßend sei, wenn er sich in die Nähe des einen Gottes rückt, dass er vielleicht sogar größenwahnsinnig sei, in jedem Fall aber aufwieglerisch – all diese Argumente zählten bei Pontius Pilatus nicht. Dieser hatte übrigens das Recht, das Urteil, das die Juden bereits über Jesus gefällt hatten, zu bestätigen. Damit hätten diese auf einem kurzen Weg, ihre Absicht, den Nazarener zu töten, erreicht. Pilatus aber war kein Freund der Juden. Deswegen wollte er ihnen auch keinen Gefallen erweisen, und er tat offenbar alles, um den Angeklagten – so zumindest schildert es das Johannesevangelium – den Anklägern zu entreißen. Er lässt Jesus geißeln und führt ihn der Öffentlichkeit mit dem Satz vor: „Ecce homo“ – frei übersetzt: Seht euch doch diesen armseligen Menschen an. „Ich finde keine Schuld an ihm.“

Kajaphas, der offenbar auf den Prozess besser vorbereitet war als sein Gegenspieler Pilatus, gibt sich plötzlich ganz freundlich gegenüber dem Kaiser. Er sagt: „Jeder, der sich zum König macht, lehnt sich gegen den Kaiser auf.“ Ein Anspruch, den Jesus nie erhoben hat. Neben der politischen Ebene führt der Hohepriester aber noch ein sehr persönliches Argument an, um von Pilatus das Todesurteil bestätigt zu bekommen. Er sagt: „Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers.“
Ein „amicus Caesaris“ zu sein beschreibt nicht eine enge Beziehung zwischen dem römischen Kaiser und einer Person, sondern es bezeichnet einen Ehrentitel, der mit großen Privilegien verbunden war und dessen Verlust sich höchst verhängnisvoll auf die soziale Stellung einer Person ausgewirkt hat. Solch eine Schmach wollte Pilatus aber nicht hinnehmen, und „er lieferte ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt würde“.
Pilatus hätte es, wenn er seinen persönlichen Ehrgeiz nicht so wichtig genommen hätte, in der Hand gehabt, Jesus auch gegen den Willen der Ankläger freizulassen. Aber sein Stolz hat ihm dies offenbar untersagt.