Die WHO hat für Europa die Zahl von 36 Millionen Menschen kommuniziert, die unter Folgen einer Long-Covid-Erkrankung leiden bzw. gelitten haben. Ist diese Zahl plausibel und wie schätzen Sie die Zahl der Betroffenen in Österreich ein?
KATHRYN HOFFMANN: Diese Zahl ist für mich absolut plausibel, weil Long Covid eben der Übergriff für alle Schäden ist. Österreich ist zahlenmäßig weiterhin eine Blackbox in Bezug auf Long-Covid-Daten und anscheinend ist politisch auch kein Interesse da, diese Zahlen zu erheben und gut darzustellen. Wenn man sich die Zahlen aus Ländern/Bundesländern ansieht, die aus Bevölkerungssicht mit Österreich vergleichbar sind – etwa UK oder Bayern –, dann kommt man auf mindestens 300.000 Menschen mit Long-Covid-Symptomatik in Österreich, alleine bis Ende 2022. Und es gibt aus Studien gute Hinweise, dass davon etwa 20 bis 30 Prozent langfristig betroffen sind. Das würde bedeuten, dass in Österreich rund 60.000 Menschen nachhaltig erkrankt bleiben. Und leider werden es weiterhin ohne Präventionsmaßnahmen täglich mehr.

Wie schätzen Sie die Versorgungslage in Österreich ein?
Der Bedarf an Anlaufstellen und Versorgung ist riesengroß und bei der Versorgungslage in Österreich ist, diplomatisch ausgedrückt, noch extrem viel Luft nach oben. Auf allen drei Versorgungsstufen gibt es große Probleme. In der hausärztlichen Versorgung bräuchte es viel mehr Zeit, mehr Wissen und eine ganz andere Honorierung. Niedergelassene müssen Zeit für Differenzialdiagnostik haben – da braucht es mehrere Termine, die viel Zeit in Anspruch nehmen. Und wenn wir von Post-Covid und ME/CFS sprechen, dann gibt es in Österreich so gut wie gar nichts. Für diese hochkomplexen postinfektiösen Erkrankungen braucht es fachübergreifendes Wissen und Anlaufstellen. Das bringt mich zu den Post-Covid-Ambulanzen. Diese sind ja derzeit an andere Fachambulanzen angeschlossen. Das bedeutet, es wird immer nur ein fachspezifischer Teilbereich, also Neurologie, Kardiologie, etc., untersucht. Aber es geht darum, alle Fehlfunktionen in unterschiedlichen Systemen des Körpers zu erkennen und diese in Zusammenhang zu bringen. Und darüber hinaus braucht es auch Anlaufstellen für schwerkranke Personen, etwa, dass es eine aufsuchende Behandlung zu Hause gibt oder in ganz schlimmen Fällen im Krankenhaus. Das fehlt auch zu hundert Prozent.

Am Freitag endete die Anzeigepflicht für Covid-19. Ist das in Ihren Augen angebracht?
Ganz eindeutig nein. Ich finde es vollkommen unverständlich, dass auch die Meldepflicht abgeschafft wird. Es gibt zahlreiche andere Krankheiten, die immer noch meldepflichtig sind, aber bei Weitem nicht so gefährlich wie Covid-19. Die wirkliche Tragik an der Diskussion in Österreich ist, dass es hauptsächlich um den akuten Verlauf geht. Die schwere, chronische Krankheitslast, alles, was Long Covid heißt, wird nicht wahrgenommen. Oder nicht ernst genommen. Dabei wird immer klarer, dass diese Folgen für uns als Gesellschaft und auch für das einzelne Individuum immer stärker zum Problem werden. Da geht es um die Einschränkung von Lebensqualität, um Arbeitsfähigkeit bzw. um Arbeitsunfähigkeit von einer großen Anzahl von Menschen. Das macht mir aus medizinischer, wissenschaftlicher und menschlicher Sicht große Sorgen.

Sie leiten ja an der MedUni Wien den Lehrstuhl für Primary Care Medicine und den Themenbereich Post Covid & ME/CFS. Welche Fragen muss die Forschung bei diesen Themen unbedingt beantworten?
Bei den Krankheitsbildern Post Covid und ME/CFS kommt es zu zahlreichen Überschneidungen. Beides sind komplexe Krankheitsbilder mit individuell unterschiedlichen Verläufen und Gemeinsamkeiten. Aus diesem Grund sind die zwei aktuell wichtigsten Forschungsfragen: Welche sind die praktikabelsten und eindeutigsten diagnostischen Kriterien und Biomarker? Und welche Therapien können eine ursächliche Wirkung erzielen und nicht nur Symptome lindern, sondern auch zur Heilung beitragen? In Bezug auf die Diagnostik haben wir bereits gute Fragebögen, anhand derer eine Diagnose möglich ist, und es gibt auch immer klarer werdende Hinweise auf Biomarker, also auf physiologische diagnostische Kriterien. Zusätzlich müssen wir jedoch erforschen, welche Subgruppen von Patientinnen und Patienten stecken unter dieser großen Überschrift Long- bzw. Post-Covid.

Wieso ist es so wichtig, die Subgruppen abzugrenzen?
Long Covid ist ein Überbegriff für alle Schäden, die Sars-CoV-2 im menschlichen Körper anrichten kann. Da fallen ebenso ein Herzinfarkt, ein Schlafanfall oder Diabetes hinein, wie auch ME/CFS. Aber, vom Wirkmechanismus, der Diagnostik und von der Therapie her sind das ganz andere Ansatzpunkte. Bei Herzinfarkt und Schlaganfall wissen wir sehr genau, wie wir diagnostizieren und therapieren müssen. Bei ME/CFS oder einer Post-Covid-Erkrankung gibt es noch keine etablierten Therapien. Wir können Symptome mildern, aber nicht wirklich heilen.

Was verstehen wir schon, was ist für Sie in Bezug auf Post Covid & ME/CFS bereits gesichertes Wissen?
Gesichert ist – gerade bei Post Covid –, dass es sich um eine Erkrankung handelt, die durch ein Virus ausgelöst wird. Es ist also eine postvirale Erkrankung. Es handelt sich um physiologische, also körperliche, vor allem neuroimmunologische Fehlfunktionen, die leider oft mit den Standarduntersuchungsmethoden nicht entdeckt werden. Die große Herausforderung ist zusätzlich, dass man wissen muss, dass Sars-CoV-2 auch bestehende oder latente Erkrankungen verschlechtern kann und dass es auch neue Erkrankungen auslösen kann. Unter diesen verschlechterten oder neuen Erkrankungen können auch psychiatrische Erkrankungen, etwa Depressionen, sein. Und aus diesem Grund ist es so wichtig, dass man eine genaue Diagnostik betreibt, die richtigen Fragebögen verwendet, den Patient:innen zuhört, damit nicht der Fehler passiert, dass z. B. eine Belastungsintoleranz, welche mit keiner Verminderung von Motivation und Antrieb einhergeht, mit einer Depression oder Angsterkrankung verwechselt wird. Das ist leider noch oft der Fall.