© copyright by kurt pinter
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Noch vor wenigen Jahren sagten Sie in einem Gespräch sinngemäß: Einige Kostenrechner im Gesundheitssystem treten nur so lange auf die Kostenbremse, bis ein Verwandter krank wird. Herr Zielinski, gilt Ihre Einschätzung noch?
CHRISTOPH ZIELINSKI: Das stimmt, das ist bis zum heutigen Tag so. Allerdings hat es sich relativiert. Nämlich, dass wir in dem sozial abgesicherten System, in dem wir leben, letztlich eine Privatisierung von Sozialausgaben haben. Wir müssen jetzt, solange wir nicht genau wissen, wo die Grenze zwischen Wirksamkeit und Unwirksamkeit einer Therapie ist, die Erzeuger der Medikamente mit in die Pflicht nehmen, damit das Risiko, wenn das Medikament nicht anschlägt, mit ihnen gemeinsam getragen wird.

Wie soll das funktionieren?
ZIELINSKI: Wir haben derzeit zwei Medikamente – ein drittes ist in Arbeit –, die wir Menschen, die an Lymphknotenkrebs erkrankt sind und auf nichts anderes mehr ansprechen, verabreichen. Dieses Medikament hätte ursprünglich 320.000 Euro gekostet, es sprechen etwa 50 Prozent der Patienten an. Das heißt also, in Wirklichkeit kostet jener Patient, der anspricht, nicht 320.000 Euro, sondern 640.000. Jetzt ist es so, dass es Nebenwirkungen gibt, die nicht miteinberechnet sind. Uns ist es gelungen, das so zu verhandeln, dass wenn ein Patient nicht anspricht, ein Teil der Kosten von der Pharmaindustrie übernommen wird. Sie würden ja auch ein Auto, das 320.000 Euro kostet, aber keinen Meter fährt, nicht bezahlen. Und genauso muss die Zukunft gestaltet sein. Wenn wir nicht wissen, warum ein Medikament nicht wirkt, dann verlangen wir das Geld.

Es gibt Fälle, bei denen Patienten in ihren Bundesländern nicht mit kostenintensiven neuen Therapien behandelt werden. Sie mussten in andere Bundesländer wechseln, damit sie bestimmte Krebstherapien...
ZIELINSKI: ... wissen wir ...

... erhalten. Manchmal entschieden ein falscher Wohnort und eine Landesgrenze, ob man behandelt wird oder nicht. Wie gehen Sie in der Krebshilfe mit solchen ­Härte-Fällen um?
PAUL SEVELDA: Vonseiten der Krebshilfe gibt es nur eine klare Forderung: Eine wissenschaftlich nachgewiesene Therapie muss in einem solidarischen Gesundheitssystem, wie wir es in Österreich haben, allen, die es brauchen, auch zur Verfügung gestellt werden. Ich glaube, wenn man die Finanzierung aus einer Hand realisiert, dann werden die Kosten sehr viel transparenter. Dann erleben wir auch nicht das Hin- und Herspielen von Patienten.


Wie oft schlagen solche Fälle bei der Krebshilfe auf?
SEVELDA: Es kommt immer mal vor, dass wir gebeten werden, uns einzuschalten.
ZIELINSKI: Wir haben jetzt im Krankenanstaltenbereich Diskussionen um ein Medikament, das auch die Hausärzte applizieren könnten. Im Sinne einer wohnortnahen Versorgung haben wir versucht, das auch umzusetzen. Die Übernahme der Kosten wird aber von der Kasse abgelehnt, weil das eine reine Spitalstherapie sei. Die Patienten müssen letztlich Wartezeiten in Kauf nehmen, anstatt zum Arzt ums Eck zu gehen. Das sind schon patientenferne Diskussionen.
SEVELDA: Das sind die Absurditäten unseres Systems, hinter denen immer nur die Frage steht: Wer zahlt es?

Grob gesagt finanzieren die Länder die Spitäler, die Kassen den niedergelassenen Bereich, dazwischen werden Pauschalen für die Spitals­ambulanzen von den Kassen bezahlt etc., das System hat sich auch mit seinen schwer nachvollziehbaren Zahlungsflüssen verselbstständigt. Welche Auswirkungen hat das auf die Patienten?
ZIELINSKI: Es wäre an der Zeit, dass die Krankenkassen erkennen, dass die Patienten keine Bittsteller sind. Sondern dass die Kassen dazu da sind, den Patienten Medikamente zukommen zu lassen, die ein zahlender Kunde eben bekommt.
Diese Rollenverteilung ist im echten Leben noch nicht angekommen.
ZIELINSKI: Ich hatte den Fall mit einer 41-jährigen Patientin in Niederösterreich, einer zweifachen Mutter, mit Lebermetastasen. Ich habe ihr in Wien ein Medikament aufgeschrieben, mit allen Begründungen. Sie ist zurückgefahren, wurde wieder weggeschickt, weil etwas in der Bürokratie gefehlt hat. So etwas halte ich für katastrophal. Man muss wissen, in welcher Ausnahmesituation die Frau ist.

Hat sie es bekommen?

ZIELINSKI: Letztlich ja.
SEVELDA: Dass es notwendig ist, dass man einen Wickel macht, und es wahrscheinlich davon abhängt, wer interveniert: Die Sorge besteht.


Im Rahmen der Kosten­diskussion um Krebsmedikamente und dass die Kosten explodieren, taucht immer wieder eine Frage auf: Was darf ein Lebensjahr, das eine Krebsbehandlung zusätzlich bringt, kosten? Was sind drei Monate, was ist ein Monat wert? Sind solche Diskussionen auch in Österreich bald unausweichlich?

SEVELDA: Es gibt Systeme wie in England, die solche Ansätze haben. Wir haben diese Diskussion in Österreich nicht. Klar ist auch: Diese Diskussion kann die Ärzteschaft nicht führen. Wir können nicht entscheiden, wem geben wir die Therapie und wem dürfen wir sie nicht verabreichen. Wenn ich höre, dass es erste Limitierungen gibt, zum Beispiel, dass die Therapie nur für zwölf Personen finanziert sein soll – dann frage ich sofort: Was passiert mit dem 13. Patienten?

Wenn wir die Diskussionen trotzdem auf die Spitze treiben, dann stehen wir irgendwann vor Fragen wie: Soll ein 70-jähriger Bankräuber, der im Gefängnis sitzt, keine Krebstherapie erhalten – aber ein 40-jähriger Wissenschaftler mit guten Zukunftsaussichten sehr wohl?
ZIELINSKI: Diskriminierung ist nicht unsere Ärztepflicht. Ein Bankräuber kann sich zu einem guten Menschen wandeln, der Wissenschaftler kann abdriften ... Moralische Urteile sollten nicht auf unserer ­Ärzte-Agenda stehen.
SEVELDA: Ich habe da einen ganz simplen Zugang: Das, was hilft, ist für die Patienten verfügbar zu machen. Es ist außerdem Aufgabe der Politik, klare Vorgaben zu machen. Unser Wissen bieten wir an. Wir schauen aber nicht auf den Preis, wenn die Evidenz überwältigend ist. Wir erleben das zum Beispiel beim Eierstockkrebs, da gibt es einen Therapie-Ansatz, der die Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung von bisher zehn auf 30 und 35 Monate verlängert. Und am Ende haben wir die Hoffnung, einige werden davon geheilt. Wenn ein Medikament so effektiv ist, muss es für alle verfügbar sein.

Das ändert wohl nichts da­ran, dass einige neue Thera­pien als „Scheininnovationen“ bezeichnet werden. Oder dass behauptet wird, dass nur ganz wenige neue Krebstherapien echte Fortschritte bringen.
ZIELINSKI: Zum Teil auch deshalb, weil wir, und das ist vielleicht ein Vorwurf, den man an die wissenschaftliche Community stellen kann, ja richten muss: Wir sind noch immer nicht in der Lage, genau vorherzusagen, welche Subpopulation welchen Vorteil von welcher bestimmten medizinischen Intervention hat. Weil wir es zum Teil noch gar nicht richtig verstehen.

Wie kann man das aus der Praxis der Krebsbehandlung heraus erklären?

ZIELINSKI: Wir haben zum Beispiel Patienten, die eine Immuntherapie gegen eine bestimmte Krebserkrankung bekommen haben. Nach fünf Jahren leben noch immer 40 Prozent der Patienten. Das ist enorm, das hat es früher nie gegeben, dass man bei einem metastasierten Lungenkarzinom solche Überlebensraten kannte. Wir leben in der Diskrepanz zwischen dem, was Firmen wollen, und dem, was Akademiker wollen. Firmen wollen – und das ist keine Gemeinheit – ihre Produkte breit verkaufen, klar. Das macht eine Autofirma genauso. Wissenschaftlich wäre es bei der Therapie aber interessant: Welcher Patient hat warum welchen Vorteil, da sind die Unterschiede sehr, sehr groß.

Beide Seiten, Pharmaindus­trie und Kostenrechner, operieren oft mit unterschiedlichen Zahlen und Statistiken.
ZIELINSKI: Die Diskussion oszilliert zwischen der Vereinfachung wissenschaftlicher Formeln auf der einen und demagogischen Auslegungen auf der anderen Seite.

Vom Hauptverband bis zu Spitalsgesellschaften gibt es Diskussionen über Therapiekosten und darüber, dass Krebstherapien budgetmäßig immer schwerer ins Gewicht fallen. Sind die Ärzte in den ganzen Diskussionen und der Entscheidungsfindung überhaupt an Bord?
SEVELDA: Der Geldgeber alleine kann das nicht machen. In Wien gibt es eine Initiative, da treffen wir uns auf Experten­ebene und diskutieren Thera­pien bei verschiedenen Erkrankungen. Welche Therapien haben die Evidenz und welche stellen wir außer Streit? Was mir in der Diskussion nicht gefallen würde: wenn das ausschließlich auf Geldgeberseite entschieden wird.
ZIELINSKI: Bei der österreichischen Krankenkasse kann jetzt das Niveau nicht nach unten gesenkt werden, sondern es muss das Niveau nach oben gehoben werden. Ich sage es jetzt pointiert: Versuchen Sie einmal eine Magnetresonanz in bestimmten Gegenden Österreichs zu bekommen. Gute Reise. In Wien müssen Sie vielleicht warten, aber Sie kriegen es. Aber woanders?

Welche Wünsche und Ziele definiert die Österreichische Krebshilfe für die Zukunft?
SEVELDA: Zuallererst, nochmals: Wirksame Therapien sind verfügbar zu machen. Es gibt natürlich noch ein paar Dinge, die wichtig wären. Österreich hat eine relativ hohe Lebenserwartung, aber relativ wenige Jahre im gesunden Leben. Da sind wir ganz schlecht, weil wir in Bezug auf unseren Lebensstil nicht gut unterwegs sind. Wenn man Menschen fragt, ist Gesundheit das Wichtigste. Ohne Gesundheit ist alles andere nicht wichtig.

Zieht die Politik bei diesem für die Gesellschaft wichtigen Thema überhaupt mit?
SEVELDA: Wenn man die politische Diskussion verfolgt: Ich habe noch nie ein Gesundheitsthema in einem Wahlkampf erlebt. Ich erlebe nie, dass ein Gesundheitsthema in Sondierungen thematisiert wird. Die Gesundheitsminister sind in Wahrheit arme Menschen, weil sie haben weder Geld noch Handlungsvollmacht. Sie sind in Wahrheit die Kontrolle der Ausbildungsordnung der Pflegeberufe und Ärzte.