Heute vor 50 Jahren wurde erstmals mit einem Mobiltelefon telefoniert. Ein Meilenstein, wenn man bedenkt, welchen Stellenwert das Handy heutzutage für viele Menschen einnimmt. 2021 haben rund die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler täglich fünf oder mehr Stunden an ihrem Smartphone verbracht. Das hat eine Studie der Donau-Universität Krems und der MedUni Wien zur psychischen Gesundheit Jugendlicher ergeben. Und obwohl junge Menschen den Großteil des Tages mit dem mobilen Begleiter verbringen, scheint die Generation Smartphone das Handy für eine Sache immer weniger zu verwenden: zum Telefonieren. 

Auch die 2019 erschienene "Social Impact Studie" von A1 bestätigt, dass der Trend in Richtung Tippen statt Telefonieren geht. Demnach nutzen 52 Prozent der Befragten ihr Smartphone überwiegend für schriftliche Kommunikation, bei den unter 24-Jährigen sind es sogar ganze 72 Prozent.

Telefonphobie: Woher kommt die Angst vor dem Telefonieren?

Aber warum ist das so? "Zum einen ist die Funktion Telefonieren in ihrer Wichtigkeit nach hinten gerückt", erklärt Lukas Wagner, Psychotherapeut und Medienpädagoge mit eigener Praxis in Graz. "Das Smartphone ist mittlerweile ein Fotomedium, ein visuelles, ein gestaltendes, ein kreatives Gerät – und das Ding kann zufällig eben auch telefonieren. Wir nehmen es aber nicht mehr als Telefonier-Gerät wahr."

Zum anderen spiele der Faktor Kontrolle eine wesentliche Rolle: "Unsere Mediennutzung ist ja heute mehr Mediengestaltung als -konsum." Als Beispiel führt der Experte Snapchat an. Viele User seien nicht nur auf Snapchat, um Fotos zu empfangen, sondern auch, um selbst welche zu verschicken. Snapchat sei dadurch ein Medium, mit dem sich gestalten lasse – allerdings kontrolliert gestaltend. "Nichts davon ist spontan im eigentlichen Sinn. Man hat unter Kontrolle, was man tut – man kann fünfzehn Fotos machen, bevor man eines hochlädt." Beim Telefonieren habe man den Faktor Kontrolle nicht.

Was Telefonieren mit Kontrolle zu tun hat

"Wer am Telefon ist, wie ich die Beziehung gestalte, wie schnell ich antworte, was ich sage, ob das wohl vernünftig ist: Darüber habe ich keine Kontrolle", so Wagner. "Ebenso wie die Kontrolle darüber, wie ich wahrgenommen werde. Bei E-Mails merkt niemand, ob ich herumstammele, weil ich nervös bin." Entsprechend würden wir unsere Kommunikation mehr und mehr ins Schriftliche verlegen, um mehr Kontrolle darüber zu haben. Im Sinne der Automatisierung würde die Kommunikation aber auch unkomplizierter. "Ich muss meine Pizza nicht per E-Mail oder Telefon bestellen, sondern die App erkennt per GPS, wo ich bin. Wieder eine Fehlerquelle weniger", so der Experte. 

Lukas Wagner ist Psychotherapeut und Medienpädagoge mit eigener Praxis in Graz
Lukas Wagner ist Psychotherapeut und Medienpädagoge mit eigener Praxis in Graz © (c) Gregor Hiebl

Wie man sich der Telefonangst stellen kann

Auch wenn die Digitalisierung viele Prozesse vereinfacht, führt in manchen Situationen dennoch kein Weg an einem Telefonat vorbei. Wie aber kann man sich der Telefonangst stellen? "Es ist in Ordnung, Angst zu haben", sagt Wagner. "Es heißt nicht, dass wir schlechte Menschen, unfähig oder ungeschickt sind. Es bedeutet nur: Ich habe Angst vorm Telefonieren. Andere haben Angst vor Spinnen."

Die eigene Angst zu akzeptieren, ist das eine – das andere, mit ihr umzugehen. Lukas Wagner spricht aus eigener Erfahrung: "Manchmal bin ich auch nervös." Mit der Zeit habe er sich eine Art Telefon-Persönlichkeit zugelegt: "Den Angstteil schicke ich dann in die Küche, der Nicht-Angstteil – die mutige Telefonstimme – ruft jetzt dort an und zieht das die fünf Minuten, die das Telefonat dauert, durch. In der Küche können die beiden dann anschließend ein Bier trinken und feiern, dass man auch so mit Angst arbeiten kann."

Den Modus zu wechseln, könne manchen Menschen helfen – sei natürlich aber auch kein Wundermittel. "Man kann sich auch sagen: 'Danke liebe Angst, es ist gut, du passt auf mich auf, aber jetzt brauch’ ich dich gerade nicht. 5 Minuten pass’ ich jetzt auf mich selber auf und nachher kommst du wieder zurück und wir fürchten uns zu Tode beim Telefonieren. Aber jetzt gerade, in dieser Situation, bist du mehr Hindernis als hilfreich.'" Werden Ängste zu ausgeprägt oder haben Auswirkungen auf das Leben, empfiehlt der Experte, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Hinweis: Der Text ist in abgewandelter Form zunächst bei "Futter", dem jungen Magazin der Kleinen Zeitung, erschienen. "Futter" ist inzwischen "Kleine Zeitung Next".