Unsere Erinnerungen an die Kindheit bestimmen unser Leben. Was ist ihre schönste Kindheitserinnerung?
ISABEL BÖGE: Für mich ist es meine grüne Meile, die fünf Nachbarschaftshäuser, die über Gärten zusammengeschlossen waren. Acht Kinder, viel Autonomie, Freiheit spüren, viel spielen.
AIDA KULJUH: Das erste Bild, das ich bei der Frage hatte, waren auch andere Kinder mit 12, 13 Jahren, eine große Gruppe, Spielen im Grünen, am Fluss, alles war sehr dynamisch. Wir konnten ganz lange draußen bleiben. Etwas war besonders: Ich konnte viele Kurse machen vom Tanzen bis zum Handball oder Klavierspielen – es war gratis für meine Eltern. Ich konnte meine Talente verfolgen.

Man kann in der Auswahl seiner Eltern gar nicht vorsichtig genug sein, soll der Philosoph Paul Watzlawick gesagt haben. Das hat mich an die Krise erinnert, die wir jetzt haben: Es ist ja auch eine Krise der Eltern. Angst um Arbeitsplätze, Krieg, Inflation, Rezession, wie sollen sich Eltern gegenüber ihren Kindern offenbaren, wie durchlässig dürfen sie mit ihren Gefühlen und Ängsten sein?
BÖGE: Sehr durchlässig. Aufzeigen, wo die Problematik liegt, ins Gespräch gehen und den Kindern einen Raum geben, sich darüber auszutauschen. Ich glaube nicht, dass es sinnstiftend ist, den Kindern Information vorzuenthalten oder heile Welt zu spielen. Im Gegenteil.
KULJUH: Ich habe viele Anfragen erhalten: Wie soll ich diese Situation meinen Kindern erklären, wie soll ich es in Worte fassen? Es ist sinnstiftend, die Informationen, die Eltern vermitteln wollen, altersgerecht an die Sprache des Kindes anzupassen und zu hinterfragen, ob das Kind es verstanden hat. Das muss alles über eine echte Begegnung erfolgen, also Tablets und Handys weglegen – und miteinander reden.

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Unsere Kinder befinden sich in der kritischsten Phase seit Jahrzehnten. Wie erleben Sie die Situation aus Spitalssicht und aus der Sicht eines niedergelassenen Arztes?
BÖGE: Wir sehen deutlich vermehrt Depressionen, Ängste, Essstörungen, Zwänge. Die aggressiven Störungen sind zurückgegangen. Wir sehen aber mehr gegen sich selbst gerichtete Aggressionen, das hat sich verdoppelt. Letztendlich fehlte in den Lockdowns der soziale Kontakt, Kinder haben sich auf sich selbst zurückgezogen und lange nicht alle sind da wieder rausgekommen. Das zeigt deutlich, wie sehr die Kinder den Kontakt zu Gleichaltrigen brauchen. Sie lernen aneinander.
KULJUH: Ich sehe ganz viele sozial ängstliche Kinder. Kinder, die es verlernt haben, in Kontakt zu kommen und daraus einen Gewinn zu haben. Dieses Bedürfnis können sie nicht durch Medien oder Internet abdecken. Es bleibt ein offenes Bedürfnis, sich zu begegnen und aneinanderzuwachsen. Ich sehe viele Kinder im sozialen Rückzug, in der Schulverweigerung, in der Depression, in der Angst­erkrankung. Kinder mit Lebensüberdruss sind mehr geworden, und Kinder leiden länger. Ich sehe viele Kinder aus dem Autismus-Spektrum.
BÖGE: Es fällt außerdem schwer, Kinder wieder in den Schulbereich zurückzubringen.
KULJUH: Es bräuchte dafür viel Arbeit. Jemanden, der diese Kinder aus der Familie in die Schule begleitet, und jemanden, der Kinder dort empfängt.



Eine zentrale Frage, die sich stellt: Ist Österreich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gut genug aufgestellt, um diese kritische Situation für die Kinder zu meistern und vor allem, um Folgeschäden zu vermeiden?
BÖGE: Ich habe mit meiner Kollegin Kathrin Sevecke eine Arbeit dazu geschrieben. Es gibt aus unserer Sicht sowohl einen Facharzt- wie einen Assistenzarztmangel. Das wirkt sich im Klinikbereich genauso wie bei den niedergelassenen Ärzten aus. Es gibt nur zwei Bundesländer, die die Bettenmessziffer erreichen, alle anderen Bundesländer liegen darunter. Die Steiermark ist weit hinten. Ich sehe die Versorgung nicht so aufgestellt, dass man schwierige Fälle frühzeitig erreicht.

Wie lange sind Ihre Wartelisten für die Patienten?
KULJUH: Ich werde nie fertig mit der Arbeit. Ich könnte einen zweiten Facharzt für meine Kassenstelle einstellen, damit man die Arbeit bewältigt.
BÖGE: Es gibt zwar Wahlärzte, aber nur für jene, die das Geld haben oder die entsprechende Versicherung. Das sind ja nicht die Patienten, die wir in der Masse haben. Es geht um die sozial Schwachen, bei denen das Geld nicht vorhanden ist. Bei uns an der Klinik sehen wir Wartelisten von vier bis sechs Monate auf Therapieaufenthalte.
KULJUH: Schockierend! Kinder müssen mit schweren Symptomen leben, ohne adäquat behandelt werden zu können.
BÖGE: Im Endeffekt tauchen 75 Prozent aller psychischen Störungen im Erwachsenenalter zwischen sieben und 24 Jahren auf. Und 50 Prozent bis zum 14. Lebensjahr, und von diesen 50 Prozent manifestieren sich 60 bis 80 Prozent chronisch, wenn man sie nicht früh genug behandelt.
KULJUH: Das sind Patienten, die als Erwachsene vielleicht nicht arbeiten können, viele Krankenstände haben, sich nicht weiterentwickeln können.
BÖGE: Wenn man da nicht gegensteuert, schaut es schlecht aus. Ich komme aus Deutschland. Wir hatten in einem Landkreis, den man mit der Steiermark vergleichen kann, 16 niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater. In der Steiermark haben wir gerade einmal zwei. Wir würden sechs bis acht benötigen. Mindestens.
KULJUH: Und es gibt noch weitere Problemzonen. Wir haben keine Therapieplätze für autistische Kinder. Man zahlt 600 bis 800 Euro für die Diagnostik, aber erhält keinen Therapieplatz.
BÖGE: Der Effekt ist: Diese Kinder bekommen mehr Medikation als nötig. Weil es die Therapie nicht gibt. Man dämpft ab, um es händelbar zu machen. Das empfinde ich als ganz schwieriges Umgehen mit Kindern.



Frau Böge, sie wollen Home Treatment etablieren: Wie kann uns das aus der aktuellen Misere helfen?
BÖGE: Es bedeutet, dass man in den Familien zu Hause einmal am Tag ein bis eineinhalb Stunden arbeitet. Mit Eltern und Kind, oder nur mit dem Kind, mit einem multiprofessionellen Team. Und alle Krankheitsbilder mit dem Ziel aufgreift, die Eltern zu befähigen, die Situation mit dem Kind auch alleine zu schaffen. Anfangs muss man fünf- bis siebenmal die Woche vor Ort sein. Der Vorteil: Kinder bleiben in ihrem sozialen Setting.

Was braucht es noch, damit es den Kindern besser geht?
KULJUH: Niedrigschwellige Zugänge und mehr niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater. Die Familien sind so dankbar. Dann brauchen wir Projekte wie „Gesund aus der Krise“, wo 15 Psychotherapie-Stunden gratis sind. Der Staat müsste außerdem Angebote machen, wo sich Kinder nach der Schule treffen könnten. Für Sport, Aktivitäten . . .

Und die Schule selbst?
KULJUH: Die Schule ist ein Riesenthema, die Lehrkräfte kommen an ihre Grenzen. Eine Lehrkraft soll nicht das machen, was wir und Psychologen und Sozialarbeiter machen. Da braucht es mehr Personal. Schulen sind überfordert.
BÖGE: Es geht auch darum Versorgung direkt an der Schule anzubieten. Und auch Screening, um frühzeitig Probleme zu erkennen.
KULJUH: Es ist so ein unglaubliches Leid, das die Kinder erleben. Meine Patientinnen und Patienten haben oft über drei, vier Jahre Symptome. Die Kinder suchen nach Antworten, auf Tik Tok ist das Thema entstigmatisiert. Aber der Besuch beim Kinder- und Jugendpsychiater oder an der Klinik ist stigmatisiert. Auch daran müssen wir arbeiten. Es fehlen auch Rehabilitationsmöglichkeiten. Egal, wo man hinschaut, sehen wir Defizite.

Nach der Uno-Konvention haben Kinder das Recht auf eine emotionale Bindung, verlässliche Personen, seelische und körperliche Gesundheit, ein Recht auf Spielen und Bildung. Geraten diese Narrative ins Wanken?
BÖGE: Ja, aber sie geraten nicht nur ins Wanken, sie sind schon im Wanken. Nicht unbedingt und nicht nur wegen Corona, sondern aufgrund der sozialen Medien, die so überhandgenommen haben, dass man als Elternteil selber gar nicht mehr merkt, wie oft man das Handy in der Hand hat. Und nochmals schnell was macht und so aus dem Kontakt geht, nicht mit dem Kind spielt, sich nicht mit dem Kind beschäftigt. Das Smartphone ist so sehr ein Element der Welt geworden, dass wir den Kindern das Recht auf Aufmerksamkeit, das Beschäftigen und das Spielen miteinander nehmen. Das ist Teil des Problems.
KULJUH: Das wird auf Paar­ebene oft den Kindern vorgelebt. Das Thema lautet: Was habe ich am Handy gesehen? Aber nicht: Was habe ich heute persönlich erlebt, was wünsche ich mir? Mein Tipp an Familien, die zu mir kommen: Handy ab 19 Uhr in die Handybox, Eltern wie Kinder. Und miteinander beschäftigen und in Interaktion gehen!