Auch wenn wir vom Krieg in der Ukraine nicht direkt betroffen sind: Die Nachrichten und Bilder, die wir tagtäglich zu sehen bekommen, lassen uns nicht unberührt. Viel mehr machen sich die unterschiedlichsten Emotionen breit: Angst, Trauer, Hilflosigkeit – aber auch Wut. Warum wir besonders jetzt auf unsere mentale Gesundheit achten sollten, wie wir sie schützen können und wie man seinen Medienkonsum aktuell am besten gestaltet, erklärt Psychotherapeut und Medienpädagoge Lukas Wagner im Interview.

Was für viele Menschen bis vor Kurzem unvorstellbar war, ist tatsächlich eingetreten: Russland hat einen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet. Ein Krieg in unmittelbarer Nähe: Was macht das mit uns?
LUKAS WAGNER: In erster Linie sehr betroffen. Es ist wieder Krieg in Europa. Und der ist nicht 3000 oder 5000 Kilometer weit weg, er ist fast vor der Haustür. Das macht etwas mit unserem Innenleben. Das erlebe ich sowohl im Freundes- und Bekanntenkreis als auch bei meinen Klientinnen und Klienten in der Psychotherapie: Seit Russland den Angriffskrieg gestartet hat, beginnt und endet jede Stunde mit einigen Sätzen zur Ukraine.

"Darf" man sich angesichts des Kriegs in der Ukraine überhaupt schlecht fühlen? Man selbst ist ja nicht direkt betroffen, hat Angehörige verloren oder muss das eigene Zuhause hinter sich lassen.
Ganz psychotherapeutisch gesprochen: Wenn man möchte, dass psychisches Leid entsteht, dann beschäftigt man sich damit, Gefühle nicht zu haben. Das ist ein Garant dafür, dass irgendetwas sehr Unangenehmes passieren wird. Deswegen: Man darf alles spüren. Je mehr wir versuchen, Gefühle zu bewerten, desto schwieriger wird es. Es geht in beide Richtungen: Man darf sich schlecht fühlen. Man darf betroffen sein. Man darf unfassbar zornig, wütend, grantig, traurig sein. Das hat alles seinen Platz. Aber genauso darf es einem in die andere Richtung auch gut gehen. Was man spürt, darf einen Platz haben.

Sich Momente der Freude, des Glücks verbieten, weil in unmittelbarer Nähe Krieg herrscht: Das sollte man also nicht?
Ganz im Gegenteil. Gerade dann braucht das einen Platz, denn es lässt einen aktiv bleiben. Man kann oft nur helfen oder präsent sein, wenn man in einer Position ist, die einen handlungsfähig macht, in der man noch etwas tun kann.

Bei vielen Menschen macht sich momentan ein Gefühl von Ohnmacht breit. Alles scheint von den Handlungen eines Mannes – von Putin – abzuhängen. Wie kann man hier entgegensteuern, damit dieses Ohnmachtsgefühl nicht überhandnimmt?
Ich rate immer zu zwei Dingen. Der etwas schwierigere Teil ist es, anzuerkennen, dass man ohnmächtig ist. Es gibt bestimmte Situationen, in denen wir abhängig davon sind, was eine andere Person jetzt irgendwo entscheidet. Auf diese Person, die da an ihrem langen Tisch sitzt, haben wir in dem Moment wenig Einfluss. Dieses Gefühl von Ausgeliefertsein erzeugt einen unglaublichen Stress und den gilt es, wahrzunehmen und anzuerkennen.

Unser Gehirn ist eine adaptive Maschine: Es kann sich an Stress anpassen. Dafür ist es gemacht. Wenn man die Menschheitsgeschichte betrachtet, haben wir den Großteil der Zeit in Stress verbracht. Finden wir noch etwas zu essen? Ist meine Familie noch da, wenn ich heimkomme? Wir Menschen können also mit einem hohen Stresslevel umgehen. Problematisch ist, wenn Stress uns lähmt. Da ist es wichtig, in die Aktivität zu kommen.

Sie haben noch etwas Anderes erwähnt, was man tun kann ...
Sich anschauen, wo man selbst handlungsfähig sein kann. Das ist der Weg aus der Ohnmacht. In der einen Rolle ist man sozusagen "Opfer der Umstände". In der anderen Rolle wird man zum "Täter" oder zur "Täterin", aber im besten Sinne des Wortes. Nämlich, indem man etwas tun kann. Das ist auch diese Welle an Solidarität, die wir gerade erleben. 

Wie kann man jetzt aktiv werden?
Helfen kann man auf viele Arten: Man kann Freundinnen und Freunden zuhören. Man kann Spenden einsammeln gehen, man kann Geld spenden. Man kann aber auch sichtbar werden mit seiner Stimme – zum Beispiel bei Demonstrationen, aber auch auf Social Media. Überall dort werden wir wieder handlungsfähig und genau das ist der Weg aus der Ohnmacht heraus.

Wie sollte man dieser Tage seinen Social Media- und Medien-Konsum gestalten? Gerade in den sozialen Netzwerken gibt es unzählige Nachrichten und Videos aus den Kriegsgebieten.
Einerseits wollen wir wissen, was los ist und andrerseits halten wir dieses Wissen schwer aus. Es ist ein Spagat. Man sollte gut hinschauen und darüber nachdenken, was das mit einem macht. In einem nächsten Schritt kann man sich dann überlegen, wie sich das positiv(er) umgestalten lässt. Für mich heißt das zum Beispiel, dass ich meinen Medien- und Social-Media-Konsum komprimiere. Ich nehme mir Zeit, um in der Früh oder am Abend reinzuschauen, dann aber ganz bewusst.

Und wenn man da weniger konsequent ist?
Wenn man nicht so diszipliniert ist, kann es helfen, sich selbst Sperren zu setzen. Die Bildschirmzeit reduzieren zum Beispiel, sich da auf bestimmte Zeitlimits zu beschränken. In Hinblick auf Social Media kann man auch, wenn man es besonders ernst meint, das eigene Instagram-Kennwort von Freunden ändern lassen. Dann kann man die jeweilige Plattform gar nicht erst besuchen, außer der Freund oder die Freundin ist gerade da und gibt einem das Kennwort ein. So kann man sich – wenn notwendig – selbst "aussperren".

Und dennoch: Es ist wichtig, Distanz zu schaffen und gleichzeitig anzuerkennen, dass der Wunsch nach Information einen Platz braucht. Und ihm auch einen Platz zu geben. Das ist eine evolutionsbiologische Überlebensstrategie: Man muss wissen, was los ist, damit das Gehirn bis zu einem gewissen Punkt Spannung auflösen kann, gleichzeitig löst dies aber auch neue Spannung aus. Man sollte da für sich selbst einen guten Rahmen finden, aber auch liebevoll mit sich umgehen.

Neben den jüngsten Ereignissen in der Ukraine befinden wir uns nach wie vor inmitten einer Pandemie. Und dann ist da ja noch der Klimawandel, der weiter voranschreitet. Es ist, als würden wir uns in einer permanenten Krisensituation befinden. Wie damit umgehen, ohne dass die mentale Gesundheit beeinträchtigt wird?
Wir haben zwei ganz wichtige Bewältigungsstrategien. Das eine ist die Atmung, das andere ist Berührung. Menschlicher Kontakt ist immer ko-regulierend, so kann man sich gegenseitig herunterholen. Die Möglichkeit, sich Nähe zu suchen – das kann durchaus auch online sein – ist etwas, was Menschen hilft, mit Krisen, mit Stress umzugehen. Ich empfehle außerdem, dass die Menschen tanzen gehen. Da kommen uns die gelockerten Corona-Maßnahmen jetzt zugute (lacht). Ich glaube, ganz wenig Menschen können schlecht gelaunt sein und gleichzeitig tanzen. Wir sind 'Nähe'-Menschen, wir brauchen andere Menschen um uns herum – das ist etwas, was während der Lockdowns gefehlt hat.

Wenn man lieber für sich ist, gibt es klassische Techniken wie zum Beispiel die Meditation. Aus der Forschung weiß man, dass Meditation enorme Auswirkungen auf das Stresserleben von Menschen hat und innerhalb von zehn, zwölf Tagen messbare Erfolge bringt – und auch innerhalb dieses Zeitraums erlernbar ist.

Wie können es junge Menschen trotz Aufwachsen in "Krisenzeiten" schaffen, ihre Zuversicht beizubehalten und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken?
Wie oft ist in der Gesellschaft das Schlechte, das Negative lauter als das Positive?! Und ganz oft hat das Schlechte einfachere Botschaften zu verkaufen als das Positive. Wenn man nach Zuversicht suchen will, dann schaut man in den Freundeskreis, zu den Menschen, die unmittelbar da sind. Um als Kalenderspruch zu sagen: "Be the change you want to see in the world." Wenn wir mit so einer Haltung rausgehen: Das macht einen spürbaren Unterschied in uns und in Anderen. Ich glaube, dass es eine positive Mehrheit gibt. Die muss manchmal vielleicht lernen, ein bisschen lauter zu werden. Aber auch gesellschaftlich: Wir haben bis jetzt jede Krise gemeistert und wir sind – auch dank Social Media – verbundener denn je. Wir haben mehr Möglichkeiten und mehr Reichweite. Gerade die nachfolgenden Generationen werden das noch viel mehr nutzen.

Wenn man sich so umschaut: Die einen sitzen am langen Tisch, ein bisschen alleine, weil alle anderen sehr weit weg sitzen. Und die anderen sitzen miteinander am Tisch und reden miteinander.

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