Was versteht man eigentlich unter einem Trauma?
CHRISTINE SEIDEL: Grundsätzlich ist unser Nervensystem dafür ausgelegt, Stress und schwierige Ereignisse, wie eine Trennung, Unfälle oder Krankheit, zu verarbeiten. Ein Trauma ist immer ein Ereignis, das zu schnell passiert und einfach zu viel für uns ist. Deswegen kann es von unserem Nervensystem nicht verarbeitet werden. Das Trauma bleibt im Nervensystem stecken. Diese Ereignisse sind dadurch im Gehirn nicht richtig abgelegt und eingeordnet. So kann das Trauma dann jederzeit durch Reize, die an das schlimme Ereignis erinnern, reaktiviert werden.

Welche verschiedenen Formen von Traumata gibt es?
SEIDEL: Man unterscheidet grundsätzlich zwischen Monotraumata und komplexen Traumatisierungen. Bei einem Monotrauma liegt ein einzelnes schlimmes Ereignis, wie beispielsweise ein Autounfall, vor. Bei komplexen Traumatisierungen handelt es sich um eine Reihe von traumatischen Erfahrungen. Sie sind häufig lang andauernd oder wiederholen sich.

Führt jedes schlimme Ereignis zu einem Trauma?
SEIDEL: Nein. Denkt man beispielsweise an eine Operation, so ist ein solcher Eingriff ein Erlebnis, das für Menschen traumatisierend sein kann. Das passiert vor allem bei Notoperationen, weil alles sehr schnell geht und man keine Zeit hat, sich darauf einzustellen. Hat man hingegen Zeit, sich auf die Operation vorzubereiten, entsteht meist kein Trauma. Eine große Rolle spielen auch zwischenmenschliche Komponenten: Gibt es während des Ereignisses eine Person, die ein Gefühl von Sicherheit und Nähe gibt, ist die Chance viel geringer, dass ein Trauma entsteht.
Wie erkennt man, ob man durch ein Ereignis traumatisiert wurde?
Kann man auf das Ereignis zurückblicken und hat dabei das Gefühl, einen guten Abstand zu dem Vorfall zu haben, liegt vermutlich kein Trauma vor. Zeigt man bei der Erinnerung hingegen Symptome, ist eine Traumatisierung wahrscheinlich.


Wie sehen Symptome aus?
SEIDEL: Die Symptome sind vielfältig. Entscheidend bei Traumata ist, dass das Nervensystem nicht gut reguliert ist. Daher pendelt es ständig zwischen Über- und Untererregung hin und her. Liegt eine Übererregung vor, kommt es zu Symptomen wie ständiger Nervosität, Angstzuständen, hoher Schreckhaftigkeit, Muskelanspannung, Depression und Schmerzen. Bei einer Untererregung macht sich ein Gefühl der Sinnlosigkeit breit. Es kommt auch zu Erschöpfung, Depression und Energielosigkeit. Außerdem fühlen sich die Betroffenen oft abgetrennt von der Welt und anderen Menschen.

Wann bricht ein Trauma hervor?
SEIDEL: Das ist unterschiedlich. Manche Menschen weisen relativ schnell Symptome auf. Es gibt aber auch Menschen mit mehreren Traumata, die oft jahrelang gut durchs Leben kommen, sich wohlfühlen und nach außen hin nicht auffällig sind. Sie haben vielleicht kleine Beschwerden, wie Schlafstörungen, aber nicht mehr. Zu einem Ausbruch kann es kommen, wenn ein schlimmes Ereignis auftritt, das dem Ursprungstrauma ähnlich ist. Hier spricht man dann von einer Retraumatisierung.


Ist es möglich, ein Trauma zu überwinden?
SEIDEL: Ja, das ist definitiv möglich. Manchmal bedeutet es viel Arbeit für die Betroffenen. Grundsätzlich entscheidet eine Mischung aus zwischenmenschlicher Bindung und Therapiemethode, ob Patienten Heilung erfahren. Da das Trauma an das Nervensystem gebunden ist, sollte dieses bei der Therapie im Zentrum stehen.

Wie geht man in der Therapie vor?
SEIDEL: Je nach Beschaffenheit des Traumas muss die richtige Therapieform ausgewählt werden. Gute Erfolge zeigt das Somatic Experiencing. Dabei handelt es sich um körperorientierte Traumaverarbeitung. Es ist eine sichere Methode, da in sehr kleinen Schritten gearbeitet wird. Körperimpulse, wie Kampf oder Flucht, die während der Traumatisierung nicht zum Abschluss gebracht werden konnten, werden vollendet. Dabei ist es nicht notwendig, sich konkret an das Trauma zu erinnern. Es reicht, mit den Symptomen zu arbeiten. Durch das Somatic Experiencing lernt das Nervensystem die verloren gegangene Selbstregulation wieder neu ein. Die Traumatisierung wird emotional und körperlich neu verhandelt und kann überwunden werden.