Wie sehr leiden Kinder unter einer psychischen Erkrankung eines Elternteils?
Katharina Purtscher-Penz: Je jünger die Kinder sind, umso mehr sind diese von einer Erkrankung ihrer Bezugsperson betroffen. Sehr junge Kinder können zum Beispiel durch die Depression eines Elternteils wenig Anregung für ihre motorische, soziale und psychische Entwicklung erfahren, sie werden wenig gefördert oder von bestimmten Aktivitäten abgehalten. Ein zweijähriges Kind braucht seine Eltern nicht nur zur täglichen Versorgung, es braucht auch die Erfahrung, liebevoll angenommen zu werden. Bei schwer depressiven Menschen ist das alles sehr reduziert und das beeinflusst und verunsichert die Kinder. Auch wenn sie noch sehr jung sind, stellen sie sich die Frage, ob das an ihnen liegt, was sie falsch gemacht haben.

Wird der Umgang mit der Krankheit mit dem Alter besser?
Nicht unbedingt besser, aber anders. Die Situation des Schulkindes ist eine andere. Das hat glücklicherweise oft einen Ort, an dem es die Sorgen von Zuhause auch vergessen kann. Die Belastung ist zeitlich punktuell. Die Kinder weinen beispielsweise am Abend, wenn sie eine Bezugsperson vermissen, die vielleicht nach einem Suizidversuch im Krankenhaus ist. Ein Sechsjähriger kann allerdings auch am selben Nachmittag Fußball spielen und sich daran freuen. Was wir nicht unterschätzen dürfen, ist, dass diese Kinder, Dinge und Situationen, die sie sehr schmerzlich empfinden, oft nicht benennen können. Und: Es bleiben viele Fragen: Was wird aus mir? Wird der Papa, die Mama wieder gesund werden? Jugendliche haben die schwierige, belastende Situation indes immer präsent. Sie können das Geschehene kaum ausblenden.

Wie hoch ist das Risiko für diese Kinder selbst zu erkranken?
Eindeutige Zahlen dazu gibt es nicht, es hängt sehr von der Art und Ausprägung der psychischen Erkrankung ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder direkt und indirekt durch die psychische Erkrankung eines Elternteils belastet sind ist allerdings sehr groß – besonders wenn mit Kindern über die Erkrankung und die Verhaltensänderungen der Bezugsperson nicht gesprochen wird. Was wir aus Untersuchungen wissen ist, dass circa 20 Prozent der stationären Patienten der Erwachsenenpsychiatrie minderjährige Kinder haben, die in unterschiedlichen Formen davon betroffen sind. In der Steiermark etwa gibt es rund 7000 Kinder, die mit einem psychisch kranken Elternteil leben. Information und Aufklärung über Auswirkungen und Heilungsaussichten sind eine wichtige Hilfe, um verstehen und einordnen zu können. Es gibt zum Glück andere Elternteile oder Großeltern, Lehrer und Kindergartenbetreuer, die das übernehmen können. In manchen Fällen braucht es professionelle Hilfe von Psychologen, Therapeuten und Fachärzten.

Katharina Purtscher-Penz ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutin. Sie leitet die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des LKH Süd-West in Graz. In der dazugehörigen Ambulanz gibt es eine maßgeschneiderte Beratung und bei Bedarf fachliche Hilfe.
Katharina Purtscher-Penz ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutin. Sie leitet die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des LKH Süd-West in Graz. In der dazugehörigen Ambulanz gibt es eine maßgeschneiderte Beratung und bei Bedarf fachliche Hilfe. © Land Steiermark

Welche Erkrankungen belasten Kinder besonders schwer?
Es gibt psychiatrische Erkrankungen, die mit sehr befremdlichen und ängstigenden Symptomen einhergehen. Das kann zum Beispiel bei einer Drogenpsychose oder einer schizophrenen Psychose der Fall sein. Besonders belastend sind Suizidversuche eines Elternteils etwa bei schweren Depressionen. Die ständige Sorge der Kinder, hoffentlich passiert nichts, während ich in der Schule oder auf Ferienlager bin, stellt eine große Belastung und Verunsicherung dar. Das verursacht bei den Kindern Dauerstress. Kinder leiden auch extrem unter der Suchterkrankung eines Elternteils, etwa bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit. Das ganze Familiensystem kann durch das Leugnen und die Heimlichtuerei beeinträchtig sein. Oft kommt es auch zu verbaler oder körperlicher Gewalt. Polizeieinsätze zu Hause oder Wegweisungen verursachen hohe emotionale Belastungen. Dazu kommen oft Schamgefühle.

Welche Anzeichen gibt es?
Es gibt Kinder, die sich eher zurückziehen, ängstlich sind, Scham- und Schuldgefühle oder vielleicht selbst depressive Symptome haben. Und dann gibt es Kinder und Jugendliche, die gereizt und ungeduldig werden, die impulsiv oder zornig sind oder durch besondere Leistungen zu kompensieren versuchen. Auch die Übernahme von Verantwortung für den psychisch kranken Elternteil oder jüngere Geschwister ist häufig.

Wie kann man den Lebensalltag Betroffener verbessern?
Es gibt Programme, etwa die „Frühen Hilfen“, die in Risikogruppen, zum Beispiel bei Teenagermüttern, Müttern mit psychischen Erkrankungen oder mit kranken Partnern versucht, schon präventiv zu unterstützen. Wenn ein Elternteil bereits erkrankt ist, ist die individuelle Beratung sinnvoller. Und: Es braucht Gespräche, in denen die Kinder dem Alter entsprechend über die Erkrankung sprechen können. Wichtig ist es, dass ehrlich über die Symptome der Krankheit, die daraus resultierenden Verhaltensweisen und die Behandlungsaussichten gesprochen werden kann. Das Maß dafür sind immer die Fragen der Kinder: Wie viel wollen sie wissen, was wollen sie jetzt gerade wissen? Oft stärken Sport, Hobbys, Freunde, Schulkollegen, vertrauensvolle erwachsene Bezugspersonen in Familie, Schule die Bewältigungsfähigkeiten der Kinder.

Wie viel Wahrheit ist den Kindern zumutbar?
Das Gespräch über die Geschehnisse in der Familie ist für Kinder besonders wichtig, denn sie bekommen ja immer irgendetwas mit. Ansonsten wird das Ereignis implizit zum Tabuthema. Immer, wenn wir etwas nicht verstehen, machen wir unsere eigene Hypothese dazu – auch Kinder tun das. Ganz oft glauben sie, es hat mit ihnen zu tun, sie suchen die Schuld bei sich selbst. Die Wahrheit ist den Kindern nicht nur zumutbar, sie brauchen sie sogar dringend, natürlich in altersgerechten Formulierungen. Man muss den Kindern nicht mehr sagen, als wonach sie fragen, aber das muss wahrhaftig sein.

Ist ein „normales“ Leben für diese Kinder möglich?
Hier müssen wir den Begriff der Resilienz erwähnen, sprich die seelische Widerstandsfähigkeit auch bei schwierigen äußerlichen Entwicklungsbedingungen. Resilienz kann sich beim Kind durch eine gelungene, frühkindliche, vertrauensvolle Beziehung und Bindung zu einer Bezugsperson entwickeln. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn die psychische Erkrankung des Elternteils erst später in der Entwicklung des Kindes auftritt oder wenn es dem Elternteil bei phasenhaftem Verlauf von Erkrankungen gelingt auch wieder lange Phasen von Verlässlichkeit, liebevoller Zugewandtheit und Fürsorge für ihre Kinder zu haben.

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