Wenn vom Kneippen die Rede ist, denken die meisten an Wechselbäder und ans Wassertreten. Aus der Sicht einer Kneipp-Medizinerin greift das aber wohl zu kurz? Was hat es mit den Wasseranwendungen auf sich?
REGINA WEBERSBERGER: Das Besondere am Kneippen ist: Es ist ein ganzes System mit vielen verschiedenen Anwendungen, die alle individuell kombiniert werden. Zu den Säulen der Kneippmedizin gehören dabei neben dem Wasser auch Ernährung, Bewegung, Heilkräuter und Stressprävention. Der Kneipp-Mediziner orientiert sich dabei an den Vor-Erkrankungen des Patienten, wie gut jemand kaltes Wasser verträgt und ob er bereits an das System gewöhnt ist. Aber schon Sebastian Kneipp hat ein paar Anwendungen für Gesunde definiert, die jeder machen kann: Wassertreten, kalte Waschungen, Knieguss und Armbad.

Kneippen ist im Kern aber dennoch keine Kältetherapie?
REGINA WEBERSBERGER: Nein, eigentlich ist es eine Regulationstherapie, die den Körper dazu bringen soll, sich selbst zu erwärmen. Wenn der Körper das nicht kann, muss man sich fragen: Ist man untrainiert oder ist der Kreislauf nicht ganz fit? Dann muss man vortrainieren: mit Wechselanwendungen, also warm-kalt, erst ins Warme, dann ins Kalte gehen. Es ist toll, wenn danach die Blutgefäße aufgehen und es einem ganz warm wird.

Es geht um die Steigerung der Durchblutung?
REGINA WEBERSBERGER: Ja, die Blutgefäße gehen aber nur auf, wenn das vegetative Nervensystem es zulässt. Das vegetative Nervensystem wird beim Kneippen also mittrainiert, und das steigert letztlich unsere Entspannung.

Die Wasseranwendungen wirken aber nicht zu jeder Tageszeit gleich?
REGINA WEBERSBERGER: Richtig. In der Früh ist eine kalte Anwendung aktivierend. Am Abend ist der Körper hingegen in der Abkühlphase. Wenn man sich da die Beine kalt abwäscht, wird man schläfrig.

Viele glauben, es gehe beim Kneippen darum, die Kälte möglichst lang auszuhalten. Ein Irrtum?
REGINA WEBERSBERGER: Ein großer Irrtum. Kalte Anwendungen dauern immer nur ganz kurz, teilweise nur 10 Sekunden. Es geht nur darum, den Kaltreiz zu spüren, zu viel Kälte schadet. Wenn mich jemand fragt, ob es gesund ist, in einem eiskalten Fluss zu schwimmen, frage ich: „Können Sie sich danach binnen ein paar Minuten wieder erwärmen, indem Sie einfach Bewegung machen und die Erwärmung des eigenen Körpers nutzen, um das Wasser auf der Haut zu trocknen.“ Abtrocknen sollte nicht nötig sein. Wenn das gelingt, ist es gut, sonst sollte man ein Flussbad bleiben lassen. Wichtig zu wissen ist auch: Vor einer Kaltanwendung muss einem immer warm sein. Nie etwas Kaltes an einen kalten Körperteil bringen! Und bei Bluthochdruck ist generell Vorsicht geboten, statt Kaltanwendungen wählt man da besser Wechselanwendungen.

Kneippen hat dennoch den Ruf, eine heftige Anwendung zu sein.
REGINA WEBERSBERGER: Das stimmt so aber nicht. Der Leitsatz von Sebastian Kneipp war: Nur so stark wie unbedingt nötig, und nicht so stark, wie es geht. Es gibt auch kein Standardprogramm, das für jeden passt, man muss sich langsam herantasten. Ideal zum Beginnen sind Wechselbäder, am besten für die Füße, denn dort hat man am wenigsten Kälterezeptoren, ist also am wenigsten kälteempfindlich. Das Wasser sollte dabei einen Temperaturunterschied von etwa 20 Grad haben. Zuerst steigt man mit beiden Beinen für etwa 3 Minuten ins warme Wasser, das etwa bis zur Mitte der Wade reicht, dann wechselt man mit beiden Beinen für 20 bis 30 Sekunden ins kalte Wasser. Einmal wechseln ist milde, eine Wiederholung der Prozedur steigert die Intensität. Drei Wechsel sind am stärksten. Ebenfalls sehr effektiv sind kalte Armbäder: Man taucht die Arme bis zu den Oberarmen bis zu 20 Sekunden lang in kaltes Wasser.

Gibt es Studien, die die Wirkung von Kneippkuren bzw. Wasseranwendungen belegen?
REGINA WEBERSBERGER: Zur Hydrotherapie gibt es nur wenige Studien. Eine Doktorarbeit an der Berliner Charité zeigt, dass Güsse die Lungenfunktion verbessern. In Holland wurde gezeigt, dass regelmäßiges kaltes Nachduschen für 30 oder 60 Sekunden die Zahl der Krankenstandstage um 29 Prozent verringert.

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