Die Zeitrechnung von Katarina Posch macht im Sommer 2015 einen Knick. Davor lebte sie 15 Jahre als Professorin für Design-Geschichte in New York, forschte an der renommierten Pratt University. Bevor sie dorthin kam, hatte die geborene Grazerin schon in Wien studiert, in Verona gearbeitet, in Paris Ausstellungen betreut, in Tokio ihre Doktorarbeit geschrieben. New York, die Stadt, die niemals schäft, nutzte sie in vollen Zügen aus, musste ihre Abende dreiteilen, um den Besuch einer Vernissage, ein Abendessen und das geliebte Tangotanzen unterzubringen. Sie lief im Riverside Park Rollerskates, ging mit Freunden segeln. Doch dann veränderte ein Gehirntumor das Lebenstempo der heute 52-Jährigen radikal: Nach der Operation, in der dieser entfernt werden sollte, wachte Katarina Posch zwar wieder auf, ihr Körper jedoch gehorchte ihr nicht mehr. Heute lebt sie in Wien, im Pflegewohnheim Haus der Barmherzigkeit. Auf dem Schild neben ihrer Zimmertür steht „Univ.Prof. Katarina Posch“.

Die Zeitrechnung änderte sich aber nicht nur für Katarina: Ihre Schwester Sophie war im Sommer 2015 in der Toskana auf Urlaub, als sie der Anruf aus den USA erreichte. Bei der Gehirn-Operation ihrer Schwester sei etwas schiefgegangen - die Hälfte der englischen Fachterminologie verstand sie nicht. Sie flog nach New York und fand ihre Schwester an Schläuchen auf der Intensivstation. Stammhirn-Infarkt lautete die Diagnose, für Katarina bedeutet das, sie ist von der Nase abwärts gelähmt, ihr völlig klares Bewusstsein ist eingesperrt in einen beinahe bewegungslosen Körper. Locked-in ist der Fachbegriff, oder wie ihre Schwester sagt: „Wir haben Katarina als lebende Puppe zurückbekommen.“

Schwester Sophie managt das Leben von Katarina Posch
Schwester Sophie managt das Leben von Katarina Posch © (c) Stanislav Jenis

Das Bewusstsein ist erhalten

Dass Katarina bei vollem Bewusstsein war, war von Anfang an klar. „Sie war ansprechbar und spürte jede Berührung“, sagt Sophie. Das ist der zentrale Unterschied zwischen Locked-in-Patienten und jenen mit dem apallischen Syndrom, auch Wachkoma genannt, wie Neurologe Christian Enzinger erklärt. „Das Bewusstsein ist voll erhalten, doch nur die Augen können bewegt werden.“ Die Ursache für das Locked-in-Syndrom ist eine Schädigung des Hirnstamms - das kann durch eine Gehirnblutung oder einen Infarkt passieren. „Fälle von Locked-in sind sehr selten“, sagt Enzinger. Bei einer Studie wurden zum Beispiel in den ganzen Niederlanden nur zehn solcher Patienten gezählt. Sind die versorgenden Nervenbahnen im Gehirn nicht völlig zerstört, können sich Patienten wieder erholen. Die Diagnose wird heute meist durch eine MRT-Untersuchung gesichert, damit Locked-in-Patienten nicht übersehen und als Wachkoma-Patienten behandelt werden.

Katarina war wach - doch Kommunikation war zunächst nicht möglich. Schwester Sophie erinnert sich, dass sie etwas so Banales wie den Code der Bankomatkarte von Katarina brauchte. „Sie hat zwar die Augen bewegt, aber ich habe nicht verstanden, was sie meint.“ Am Anfang hat Katarina nur geweint, es war der einzige Weg, wie sie sich ausdrücken konnte. „Heute“, sagt Schwester Sophie stolz, „hat sie eine Mimik, sie kann den Kopf schütteln, wir können gemeinsam lachen.“ Zieht Katarina die Augenbrauen hoch, bedeutet das „Ja“, dreht sie den Kopf zur Seite, sagt sie „Nein“. Und für all das dazwischen gibt es die Buchstabentafel: Das Konzept hat Sophie in den USA kennengelernt und es selbst für die deutsche Sprache adaptiert. „Als Angehöriger schult dich keiner ein“, sagt sie.

Das Tor zur Welt

In fünf Zeilen sind die Buchstaben nach ihrer Häufigkeit aufgereiht. Will Katarina etwas sagen, bewegt sie ihre rechte Hand und Sophie beginnt: 1. Zeile? Katarina hebt die Augenbrauen - ja. Sophie: „A? E?“ Wieder gehen die Augenbrauen nach oben. Der erste Buchstabe ist also „E“. Der zweite Buchstabe steht auch in der ersten Zeile, ist ein „I“. Viele Buchstaben und Augenbewegungen später hat Katarina auf die Frage, wie es ihr geht, mit „einigermaßen gut“ geantwortet. Die beiden Schwestern können die Tafel auswendig, für das Pflegepersonal hängt eine große Tafel über Katarinas Bett. „Wir unterhalten uns so, wenn wir in der Straßenbahn fahren, die Leute schauen dann“, erzählt Sophie. Und sagt: „Diese Art zu kommunizieren ist für beide Seiten anstrengend.“ Manchmal fehlt die Geduld, manchmal bleiben Botschaften in der Luft hängen. „Meine Meinung kommt dann erst 24 Stunden später“, wird Katarina selbst im Interview sagen (siehe rechts) - dann, wenn sie am Computer sitzt, der für sie das Tor zur Welt ist.

Mit der Buchstabentafel kann Posch kommunizieren
Mit der Buchstabentafel kann Posch kommunizieren © (c) Stanislav Jenis

Den Computer steuert Katarina mit den Augen, sie schreibt E-Mails mit Freunden in der ganzen Welt, publiziert wissenschaftliche Artikel. Der Computer gibt ihr auch eine Stimme - „das kennen die meisten von Stephen Hawking“, sagt Sophie, doch Katarinas Computerstimme ist natürlich weiblich.

Ein eingespieltes Team

Katarina und Sophie - als die zwei jüngeren von vier Geschwistern waren die beiden schon immer ein Team. „Daher ist meine Aufgabe hier für mich ganz selbstverständlich.“ Vom Rückflug aus den USA, der im Ambulanz-Jet 70.000 Euro kostete, die über Spenden aufgestellt wurden, bis zum Besucher-Plan - Sophie, die Unternehmensberaterin ist, managt das Leben ihrer Schwester. Aber nicht nur sie: Mutter Elke hat das Kulturmanagement für Katarinas Opernbesuche übernommen, Vater Erich kümmert sich um die Finanzen, Schwester Elisabeth ist Ärztin und organisiert das Medizinische. Diesen Sommer waren die Schwestern in Bratislava, sie gehen ins Kino oder shoppen. Die Barrierefreiheit sei für den großen Rollstuhl oft nicht gegeben, „aber es gibt nichts, das wir nicht überwinden“, sagt Sophie.

Schwester Sophie ist auch überzeugt: „Das wird wieder.“ Es gebe Locked-in-Patienten, die Monate, andere, die Jahre in diesem Zustand waren. „Die Zeit, bis es wieder wird, gestalten wir so angenehm wie möglich“, sagt Sophie. Katarina bewegt ihre rechte Hand, sie möchte etwas sagen. Sophie beginnt: 1. Zeile? Der erste Buchstabe ist ein „I“. Am Ende sagt Katarina: „Ich rechne aber auch damit, dass ich so bleibe.“

Katarina Posch lebt in Wien im Pflegewohnheim Haus der Barmherzigkeit
Katarina Posch lebt in Wien im Pflegewohnheim Haus der Barmherzigkeit © (c) Stanislav Jenis