Cannabis wurde schon vor 5000 Jahren in China als Heilpflanze eingesetzt und im Mittelalter auch in Europa verwendet: Warum ist gerade jetzt ein solcher Hype ausgebrochen?

RUDOLF BRENNEISEN: Der Hype betrifft vor allem das Cannabidiol, kurz CBD, und dessen aggressive Vermarktung als Lifestyle-Droge, Nahrungsergänzungsmittel, Kosmetikum, Tabakersatz und auch Heilmittel. Die Heilsversprechen sind nicht nur reißerisch, sondern klinisch auch kaum belegt und in Hanfshops illegal. Ein Grund für das wiederentdeckte Interesse am Medikament Cannabis war auch die Entdeckung, dass unser Körper über ein eigenes Cannabinoidsystem verfügt.

In Deutschland war es ein langer Weg für Patienten, bis sie Cannabisblüten aus der Apotheke beziehen konnten - in Österreich sind wir davon weit entfernt. Was spricht dagegen, Cannabis in seiner „natürlichen Form“ einzusetzen?

Für jedes Arzneimittel muss die Wirkung, die Qualität und die Unbedenklichkeit nachgewiesen werden. Dazu gehört auch eine immer gleiche Konzentration des Wirkstoffs in einem Heilmittel - nur so kann auch die optimale Dosis verabreicht werden. Das ist bei Cannabisblüten aber nicht möglich, da sie von Natur aus unterschiedliche Konzentrationen des Wirkstoffs enthalten - und das sogar dann, wenn sie von derselben Pflanze stammen!

Wie sollte Cannabis daher als Medizin verabreicht werden?

Für die Industrie und den Apotheker sind Cannabisblüten ein ideales Rohmaterial, das zu Präparaten verarbeitet werden kann. Die Erkenntnis, dass man normierte und qualitativ abgesicherte Produkte bevorzugen sollte, setzt sich auch bei Patienten durch, die sich bisher unkontrolliert selbst therapieren. Leider rauchen aber noch immer viele Patienten Hanf von der Straße, der oft verunreinigt ist.

Rudolf Brenneisen
Rudolf Brenneisen © (c) Christoph Liebentritt

Die psychogene Wirkung von Cannabis ist bekannt, Studien belegen auch, dass Cannabis-Konsum Psychosen auslösen kann. Wie sollte man mit diesen Risiken umgehen?

Cannabis mit THC-Gehalt ist kein harmloses Naturprodukt, Cannabis-Psychosen sind wissenschaftlich dokumentiert. Bevor THC-haltiges Cannabis verschrieben wird, braucht es daher eine saubere ärztliche Abklärung. Besonders wichtig ist dabei, abzuschätzen, ob der Patient psychisch labil ist und ob ein Suchtrisiko besteht. Dazu gehört auch eine eindeutige Diagnose der Beschwerden, die behandelt werden sollen.

Die Liste der Beschwerden, für die Cannabis empfohlen wird, ist ellenlang - besteht die Gefahr, dass Cannabis als vermeintliches Heilmittel für „eh alles“ eingesetzt wird?

Die von Patienten und von gewissen Medien verbreitete Mystifizierung des „Wunderheilmittels Cannabis“ ist tatsächlich ein Problem. Wir als Fachleute müssen dieser Entwicklung mit wissenschaftlich fundierter Information entgegentreten. Andererseits müssen Erfahrungsberichte von Patienten von der Schulmedizin auch ernst genommen werden. Schließlich basieren einige der wenigen klinischen Studien auf Erkenntnissen aus der Volksmedizin.

Bei welchen Beschwerden ist die Wirkung von Cannabis-Präparaten tatsächlich gut belegt?

Leider wird das Potenzial von Cannabinoiden allzu oft überbewertet. Die besten wissenschaftlichen Beweise gibt es für die Wirkung von THC bei Muskelkrämpfen, Appetitlosigkeit, Nebenwirkungen einer Krebstherapie, chronischem oder neuropathischem Schmerz. Ermutigend sind auch erste Forschungsergebnisse bei Patienten, die an chronischen Darmentzündungen leiden. CBD scheint bei schweren Epilepsieformen bei Kindern, Psychosen, Angst- und Schlafstörungen sowie Entzündungen wirksam zu sein. Es besteht aber noch immer großer Forschungsbedarf, vor allem, was das CBD betrifft.